Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Menschenmenge die dunkle Gestalt zu erspähen. Aber umsonst. Der Mann war verschwunden. Entmutigt machte er kehrt und hinkte zum Wagen zurück.
Obgleich Michael überzeugt war, dass Frederic sich das Ganze eingebildet hatte, ließ diesen der Vorfall nicht ruhen. Abend für Abend ließ er Michael im Stadthaus allein und trieb sich in der näheren Umgebung der Straßenecke herum. Wenn es dunkel wurde, betrat er für gewöhnlich eines der Gasthäuser, um etwas zu essen und mit einem Glas Bier in der Hand aus dem Fester zu schauen und von dort aus die Menschen zu beobachten.
Am heutigen Abend hatte ihm der Kellner gerade sein Essen serviert, als zwei Tische weiter plötzlich ein Streit aufflammte. Ein Barmädchen schrie zwei Männer an, die von den Stühlen aufgesprungen waren. »Du hast gesagt, dass du mich liebst, du verlogener Bastard!«, beschimpfte sie einen der beiden, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich mache das nicht! Ich habe gehört, dass einige dabei verblutet sind!«
Als der Mann nur die Schultern zuckte, warf sie ihm ein zusammengeknülltes Papier ins Gesicht und stürzte sich auf ihn. Rundherum sprangen die Leute auf, und sofort eilten zwei Kellner herbei, um eine mögliche Schlägerei im Keim zu ersticken. Auch Frederic war aufgesprungen. Selbst als die Kellner das Mädchen wegzogen, spuckte sie noch Gift und Galle. Einige Gäste warfen ein paar Münzen auf den Tisch und verließen die Kneipe, während die Besitzerin schützend den Arm um das weinende Mädchen legte und es in die Küche führte.
Frederic sank auf seinen Stuhl zurück. Als er die Gabel in die Hand nahm, bemerkte er, dass seine Serviette zu Boden gefallen war. Er bückte sich und entdeckte dabei das Papierchen unter seinem Stuhl. Als er den Zettel glattstrich, sprangen ihm beinahe die Augen aus dem Kopf: COLEBURN CLINIC , 27 WATER STREET .
Johns Meinung nach lag die Praxis in einer heruntergekommenen Gegend, nur ein paar Blocks vom Hafen entfernt. Er wollte das gleich am nächsten Tag überprüfen. Als ihm Frederic seine Begleitung anbot, lehnte John ab. »Zu zweit machen wir uns schneller verdächtig.«
Zögernd gab Frederic nach. »Für den Fall, dass es tatsächlich Robert Blackford ist, dann versprich mir, dass du nichts unternimmst. Wir müssen zuerst gemeinsam überlegen, wie wir vorgehen wollen.«
John nickte, aber beruhigt war Frederic deshalb noch lange nicht.
Am nächsten Tag begab sich John zu der angegebenen Adresse. Die Praxis lag in einem Stadthaus, in dem ständig Menschen ein und aus gingen. Er sprach eine Frau an, die mit zwei kleinen Mädchen aus dem Haus kam. »Ist dies die Praxis von Dr. Coleburn?«
Misstrauisch sah die Frau ihn an. Anfangs dachte er, dass sie kein Englisch sprach. »Ja«, meinte sie in breitem irischem Dialekt, »hier arbeitet Dr. Coleburn. Warum fragen Sie?«
»Ich wusste nicht, ob ich die richtige Adresse habe. Vielen Dank.«
Die Frau nickte und drängte ihre Kinder weiter.
John trieb sich den ganzen Tag über in der Nähe der Praxis herum und wartete. Nach Einbruch der Dämmerung kamen andere Patienten. Meistens waren es jetzt junge Frauen, die sich verstohlen umblickten, bevor sie den Türknauf drehten und rasch eintraten. Stunden später ging auch der letzte Patient, und die Fenster im Obergeschoss wurden dunkel. Einige Minuten darauf trat eine schlanke, dunkel gekleidete Gestalt aus der Tür und stieg mit schnellem Schritt die Treppe hinunter. John folgte dem Mann die Straße entlang. Dabei hielt er sorgfältig Abstand und trat sehr leise auf, damit ihn seine Schritte nicht verrieten. Irgendwann bog der Mann um die Ecke, ging einige Blocks weiter und bog gleich darauf noch einmal ab. Dann stieg er die Stufen zu einem Reihenhaus empor. John merkte sich die Adresse.
Am Tag darauf saß er noch vor der Morgendämmerung auf den Stufen des Hauses, das 13 Stone Street gegenüberlag. Den Kragen hatte er hochgestellt und die Mütze tief in die Stirn gezogen. Um Punkt acht Uhr verließ Robert Blackford das Haus und machte sich auf den Weg in die Praxis.
»Wir können umgehend ein Schiff organisieren. Jetzt, da wir die Adresse kennen, dürfte es für uns drei kein Problem sein, ihn zu überwältigen und aufs Schiff zu bringen.«
»Ich muss Ihrem Vater recht geben.« Nachdenklich rührte Michael in seinem Tee. »Es ist am ungefährlichsten.« Obgleich John nichts entgegnete, missfiel Michael seine Miene. Offenbar hatte John eigene Vorstellungen. »Wenn er erst einmal auf
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