Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Charmantes ist, hat Ihr Vater bei der Strafe freie Hand.«
John faltete die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und sah von einem zum anderen. Aber seinen blitzenden Augen war nichts zu entnehmen. »Nun gut«, sagte er. »Wann soll es losgehen?«
»Morgen kümmern wir uns erst einmal um das Schiff«, antwortete Frederic. »Das nächste, das in New York eintrifft, muss den Umweg nach Charmantes machen.«
»In der Zwischenzeit werde ich Blackford im Auge behalten«, warf John ein. »Er soll uns nicht noch einmal entwischen.«
»Ausgezeichnet«, bemerkte Frederic.
John erhob sich, um sich zurückzuziehen. Beunruhigt sah Michael ihm nach. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass John eigene Pläne hatte. »Hören Sie zu, John. Während sich Ihr Vater morgen um das Schiff kümmert, würde ich gern sehen, wo Blackford lebt.«
Verdutzt sah John den Priester an. »Das halte ich für viel zu riskant.«
»Wir können ja warten, bis er in die Praxis gegangen ist. Dann sind wir auf der sicheren …«
»Na gut«, unterbrach ihn John knapp, »ich gehe jetzt zu Bett.«
Mittwoch, 5. Dezember 1838
Der abendliche Wind war kalt, und es sah nach Regen aus, als Lily Clayton an den eleganten Stadthäusern von Greenwich Village entlang zur Sixth Avenue ging. Obgleich heute erst Mittwoch war, hatte ihr Arbeitgeber sie in einem Anfall von Großzügigkeit früher gehen lassen. Lily war dem Mann sehr dankbar. Sie hatte also zwei Stunden Zeit, bevor Rose, die tagsüber auf ihre Kinder aufpasste, sie zu Hause erwartete.
Sie blieb vor John Duvoisins Stadthaus stehen und sah, dass die Fenster erleuchtet waren. Licht bedeutete, dass John wieder in New York war. Seit Februar hatte sie ihn nicht gesehen und entsprechend vermisst. Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil er nie zuvor so lange fortgeblieben war. Im Augenblick fragte sie sich, warum er bisher nichts von sich hatte hören lassen. Normalerweise kam er nach seiner Ankunft immer kurz bei ihr vorbei.
Vor ein paar Jahren hatten Lily und ihre Schwester Rose noch auf den Plantagen der Duvoisins in Virginia gearbeitet. Zuvor waren die Mischlingsmädchen im Jahr 1834 durch den Kauf von Wisteria Hill in den Besitz von John Duvoisin gelangt. Als sie von der Kaufabsicht erfuhren, waren sie begeistert, weil sie wussten, dass John alle seine Sklaven auf Freedom in die Freiheit entlassen hatte. Bei seinem ersten Besuch auf Wisteria Hill hatte sich Lily regelrecht in ihn verliebt. John war nicht nur jung und sah gut aus, sondern er hatte auch, im Gegensatz zu anderen Plantagenbesitzern, mit ihr wie mit einer gleichberechtigten Person gesprochen. Gleich nach dem Kauf endete ihr Sklavendasein. Von da an war Lily Haushälterin auf Freedom, während Rose dieselbe Stellung auf Wisteria Hill innehatte, das nur zwei Meilen entfernt lag.
Lily war ein hübsches Mädchen mit hellbrauner Haut, schlank und hochgewachsen, mit glattem Haar, dunklen Augen, sinnlichen Lippen und einer wohlgeformten Nase. Sie hatte Zwillinge, einen Sohn und eine Tochter, und einen Mann namens Henry, der jedoch vor dem Verkauf von Wisteria Hill an einen Baumwollfarmer in North Carolina verkauft worden war.
Henry war Mulatte, sodass Lilys Kinder fast hellhäutig waren und ein unbefangener Beobachter keine Abstammung als Schwarze vermutete. John wollte Henry zurückkaufen, um ihn auf Freedom zu beschäftigen, doch als verbohrter Südstaatler lehnte sein Besitzer alle Vorschläge ab. Henry war ein kräftiger Mann und leistete gute Arbeit. Außerdem verachtete sein heutiger Herr alle Plantagenbesitzer entlang der Staatsgrenze, die ihre Sklaven in die Freiheit entließen, und tobte allein bei dem Gedanken daran, dass auch nur ein einziger schwarzer Mann, noch dazu ein Mulatte, seine Freiheit erlangen könnte.
Lily war klar, dass sie Henry nie wiedersehen würde. Vor drei Jahren hatte sie zudem die Nachricht erhalten, dass er seit einem missglückten Ausbruchsversuch »verkrüppelt« sei. Drei Sklaven, die es bis nach Freedom geschafft hatten, hatten ihr einen Zettel von Henry in die Hand gedrückt. Man hatte ihn brutal verstümmelt und ihm die Zehen am rechten Fuß abgehackt, damit er nie wieder weglaufen konnte. Wohl oder übel musste sich Lily mit einem Leben ohne Henry abfinden.
Als John immer öfter nach New York reiste, bat sie ihn eines Tages, sie und die Kinder und ihre Schwester dorthin mitzunehmen. Sie wollte ganz von vorn beginnen und wirklich unabhängig sein. Ihre Kinder sollten frei aufwachsen und zur
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