Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Schule gehen. Anfangs zögerte John, weil er während seiner häufigen Reisen seine Häuser bei den beiden Frauen in besten Händen wusste. Doch sie bettelten so lange, bis er sich überreden ließ und sie vor knapp drei Jahren nach New York brachte.
Er verhalf den beiden Schwestern zu einer Anstellung als Haushälterinnen bei gutsituierten New Yorker Geschäftsleuten. Außerdem fand er im südlichen Manhattan ein Häuschen für sie und bezahlte die Miete für das erste Jahr. Und er begleitete Lily, als sie ihre Kinder an der Public School anmeldete. Der Schulleiter hielt ihn für Lilys Mann und die Kinder somit für weiß. Als er John nach seinem Arbeitgeber fragte, gab dieser kurzerhand die Schifffahrtsgesellschaft Duvoisin an, was den Schulleiter zufriedenstellte und nicht einmal gelogen war. Auch ohne ihren geliebten Henry war Lilys Leben von nun an besser denn je.
Lily liebte Henry von Herzen und sehnte sich nach einem gemeinsamen Leben mit ihm. Aber ebenso liebte sie John. Sie liebte ihn, weil er sie respektvoll behandelte, und sie liebte ihn, weil sie ihm alles sagen konnte und er ein guter Zuhörer war. Sie konnte um Henry weinen und wusste, dass John sie verstand, weil er, wie sie vermutete, selbst eine Trennung von einem geliebten Menschen erlebt hatte. John war ein Freund ihrer Kinder und brachte sie oft zum Lachen. Außerdem liebte sie ihn, weil er sie nie unter Druck gesetzt hatte wie all die anderen weißen Männer zuvor … obgleich sie oft sein Bett geteilt hatte. Zuweilen hatte er sogar gescherzt, dass Henry, wenn er davon erfuhr, blitzartig alle Behinderungen überwinden und seiner Knechtschaft entkommen würde, um ihn zu töten.
Heute Nacht wollte sie ihn besuchen, damit er sie endlich von der nagenden Sehnsucht erlöste, die sie seit Februar mit sich herumtrug. Nach dem Abendessen würde sie die Kinder ihrer Schwester überlassen und zurückkommen.
John schlug den Kragen hoch und zog die Kappe tief in die Stirn, bevor er an der Tür der Vermieterin klopfte. Das Haus war in viele kleine Wohnungen unterteilt, die sich in mehreren Stockwerken übereinandertürmten. Der Eingangsflur war düster, was durch den einsetzenden Regen noch verstärkt wurde. Die meisten Hafenarbeiter waren längst zu Hause, und überall hörte man spielende Kinder, unterdrückte Stimmen und klapperndes Geschirr.
Die Hauswirtin öffnete die Tür. Sie war eine untersetzte Person in mittlerem Alter, deren strähniges, grau meliertes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war und ihr bis zur Taille reichte.
»Was wollen Sie?«, fragte sie kauend, bevor sie schluckte und ihren letzten Zahn sehen ließ.
»Ich bin auf der Suche nach Dr. Coleburn.«
»Haben Sie an seiner Tür geklopft?«
»Es hat niemand aufgemacht. Wann kommt er denn für gewöhnlich nach Hause?«
»Wer will das wissen?« Sie sah ihn abschätzend von oben bis unten an. Vermutlich hatte er seine Freundin geschwängert und brauchte die Hilfe des Doktors.
»Ein Patient.«
Sie beäugte ihn skeptisch.
Er zückte eine Dollarnote.
»Er kommt immer spät. Meistens nach neun. Am besten kommen Sie noch einmal wieder.« Sie schnappte sich die Banknote.
»Aber es regnet, und ich komme von weiter her. Kann ich vielleicht in seiner Wohnung warten?«
Trotz ihres misstrauischen Blicks lehnte sie seine Bitte nicht rundweg ab. »Wie viel ist Ihnen das wert?« Sie klapperte mit dem Schlüsselbund an ihrem Gürtel.
Wieder streckte John die Hand aus. Diesmal mit einer knisternden Fünf-Dollar-Note. Gierig riss die Frau die Augen auf. »Wie wäre es mit zweien?«
Als Frederic nach Hause kam, saß Michael am Kamin und las Zeitung. Draußen war es bereits dunkel, und alle Lampen brannten. Es war ein langer Tag gewesen, aber zum ersten Mal gab es so etwas wie Hoffnung.
Spät am Abend hatte die Heir im Hafen von New York festgemacht, und im ersten Morgengrauen saß Frederic bereits mit dem Kapitän beisammen. Während sein Sohn dem Priester Blackfords Praxis und sein Haus zeigte, klärte Frederic den Kapitän über das Geschehen auf der Insel auf und erörterte seine weiteren Pläne mit ihm. Als John und Michael in den Hafen zurückkehrten, war bereits ausgemacht, dass Will Jones auf jeden Fall unverzüglich nach Charmantes aufbrechen sollte, auch wenn sich keiner der drei innerhalb der nächsten drei Tage bei ihm meldete. Der Kapitän sollte Paul berichten, dass Frederic, John und Michael den gesuchten Blackford tatsächlich unter dem Namen Coleburn ausfindig
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