Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
meine Tante umso eifriger. Das überrascht mich nicht. Sie hat mich schon immer gehasst. Heute habe ich das vielleicht verdient, aber als Kind sicher nicht!«
Frederic nickte. Er überlegte kurz, ob er John bitten sollte, seine Entscheidung in Bezug auf das Testament noch einmal zu überdenken, aber dann scheute er davor zurück. Der Entschluss seines Sohnes stand fest. Daran wollte er nicht rütteln. Er wandte sich zum Gehen. »Gute Nacht, John.«
»Gute Nacht, Vater.«
Dienstag, 3. April 1838
Am nächsten Morgen war John zeitig auf den Beinen, aber nicht zeitig genug, denn das Kinderzimmer war leer. Er wollte schon gehen, trat dann aber ein.
Im Gegensatz zum Abend zuvor herrschte absolute Stille. Er war allein. Allein mit seinen Erinnerungen. Er strich über das Kissen auf Pierres Bett und dachte an das letzte Mal, als er hier gesessen hatte.
Charmaine stand bereits mitten im Zimmer, bevor sie John bemerkte. Erschrocken fuhr er in die Höhe. Dann wandte er sich ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie wollte schon zu ihm laufen und ihn trösten, doch sie wusste, dass er seinen Kummer lieber in sich verschloss und nicht daran rühren mochte. Manchmal ist es leichter zu weinen, als zu lachen . In diesem Moment verstand sie ihn nur zu gut.
»Die Mädchen und ich wollen einen kleinen Spaziergang machen. Möchten Sie nicht mitkommen?«
»Nein, Charmaine«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich möchte heute lieber allein sein.«
Sie zögerte kurz, ging dann aber hinaus und überließ ihn seiner Trauer.
Mittwoch, 4. April 1838
Charmaine platzte in die Bibliothek und blieb wie angewurzelt stehen, als sie sich inmitten einer Besprechung zwischen John, Edward Richecourt, Geoffrey Elliot und einem anderen Mann wiederfand, den sie nicht kannte. Die Männer verstummten und musterten sie verlegen. Charmaine sah zu John hinüber, der hinter dem Schreibtisch saß, die Beine lässig übereinandergeschlagen hatte und Jeannettes Katze streichelte. Er sah ärgerlich aus. Vermutlich ärgerte er sich über sie, weil sie einfach hereingeplatzt war.
»Ich … entschuldige mich«, stotterte sie. Sie wich zurück und tastete hinter ihrem Rücken nach dem Türknauf.
»Wo sind meine Schwestern, Miss Ryan?« Johns barscher Ton erschreckte sie noch mehr als seine ärgerliche Miene.
»Sie sind bei Ihrem Vater, und ich habe frei.«
»Sie haben nichts zu tun, wollten Sie vermutlich sagen«, fuhr er ebenso herrisch fort.
»Ja.« War dies eine geheime Zusammenkunft?
»Fürs Nichtstun werden Sie nicht bezahlt, Miss Ryan. Ich habe eine Aufgabe für Sie.«
Charmaine war sprachlos. War dies die neue Agatha in Verkleidung, oder wollte er nur vor den Anwälten angeben?
»Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich.« Als er sich vorbeugte, um einen Stuhl an den Schreibtisch zu ziehen, sprang die Katze von seinem Schoß herunter. »Hier sind Papier und Feder. Notieren Sie einfach, worüber wir sprechen.«
Das konnte nicht sein Ernst sein! Sie wusste nicht, ob sie sich ärgern oder lachen sollte.
»Na los, Miss Ryan«, sagte John. »Die Zeit drängt.«
Er meinte es wirklich ernst! Verblüfft setzte sie sich, doch als sie zur Feder griff, ärgerte sie sich insgeheim. So ein Angeber!
John stellte ihr den Unbekannten als Carlton Blake vor. Der Mann sah gut aus, war ungefähr so alt wie John und nickte ihr freundlich zu. Vermutlich kannten sich die beiden aus den Staaten.
Dann nahm Edward Richecourt die Diskussion wieder auf. Gebannt lauschte Charmaine den Angaben über Zahlen, Preise, Exporte, Lieferungen, Forderungen, Verträge und Handelswege und gewann immer mehr Spaß an dem Einblick in die Geschäfte der Duvoisins. Sie gab sich große Mühe, alles gewissenhaft zu notieren, doch ihre Feder konnte mit dem Tempo, in dem die verschiedenen Vorschläge besprochen wurden, kaum Schritt halten. Als John ebenfalls zur Feder griff, fragte sie sich, wozu er sie eigentlich brauchte.
Als Carlton Blake auf den Schiffstransport über den Erie-Kanal in den Mittleren Westen zu sprechen kam, bemerkte Charmaine, dass John sie ansah. Zu ihrer Überraschung lächelte er jedoch, als er das Papier zu sich herüberzog, den Kopf auf Zeigefinger und Daumen stützte und ihre Notizen überflog. Er legte ihren Bogen unter den, auf dem er selbst geschrieben hatte, und schob beides zurück. Sie entzifferte das Gekrakel. Wie lange dauert es wohl, bis Geffey wieder nach den Verträgen fragt? Ihr Blick wanderte zu Geoffrey Elliot und dann zu John, der Mr
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