Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
während die anderen das Haus verließen und sich auf den Wiesen und im Garten ergingen.
Charmaine begleitete ihre Schützlinge in den Wohnraum, wo Frederic seine Töchter einigen Gästen vorstellte. Alle waren überaus freundlich. Helen Richecourt hatte soeben erfahren, dass die Mädchen Piano spielten, und bat Jeannette um eine Kostprobe. Es dauerte nicht lange, bis sich ein kleinerer Kreis um das Instrument sammelte und den Lieblingsstücken der Mädchen lauschte.
»Charmaine? Charmaine Ryan?«
Charmaine wandte sich zu dem Ehepaar um. »Mr und Mrs Stanton! Wie schön, Sie zu sehen!«
Raymond Stanton war Kaufmann und ein Geschäftspartner von Joshua Harrington in Richmond. Seine Frau Mary und er hatten nicht am Dinner teilgenommen und waren vermutlich gerade erst zum Ball eingetroffen.
»Wir freuen uns ebenso, meine Liebe. Loretta und Joshua lassen Sie grüßen.« Lächelnd betrachtete Mary Charmaine von Kopf bis Fuß. Diese gewandte junge Frau konnte doch unmöglich das schüchterne Mädchen sein, das sie vor Jahren bei den Harringtons kennengelernt hatte.
»Ich freue mich immer, wenn ich von den Harringtons höre. Wie geht es ihnen denn?« Charmaine blieb höflich, obwohl ihr die abschätzenden Blicke missfielen.
»Recht gut. Im Augenblick bereiten sie sich auf einen Besuch bei Jeremy in Alexandria vor.«
»Das ist ja wunderbar. Jetzt im Frühling fällt das Reisen auch leichter.«
»Ja, ja.« Marys Blicke schweiften umher. »Dieses Haus ist wahrlich beeindruckend. Wie lebt es sich denn in solcher Pracht?«
Charmaine bemerkte, dass Frederic Duvoisin nur wenige Schritte hinter ihr stand. »Ich lebe sehr gern auf Charmantes, Mrs Stanton. Natürlich ist mein Leben hier ein klein wenig anders als mein früheres in Richmond.«
»Das will ich meinen. Ich muss sagen, Paul Duvoisin ist ein wirklich gut aussehender Mann. Bestimmt liegen ihm die Mädchen zu Füßen. Sehen Sie ihn öfter?«
»Fast jeden Tag, Mrs Stanton. Er wohnt ja hier.«
»Wie ich sehe, ist Anne London seine Begleiterin. Seltsam. In Richmond tuschelt man nämlich, dass sie mit seinem Bruder verlobt sei. Ich meine, mit John.«
Bevor Charmaine etwas sagen konnte, plapperte Mary Stanton bereits weiter. »Ist er denn auch hier?«
»Ja …« Charmaine seufzte, als Marys Augen aufleuchteten.
»Sie müssen ihn mir unbedingt zeigen. Ich habe schon so viel von ihm gehört, ihn aber noch nie persönlich getroffen. Raymonds Partner bezeichnen ihn als schwierig.«
In diesem Moment kamen die Zwillinge angestürmt. Charmaine konnte die Mädchen kaum mit den Stantons bekannt machen, als Yvette schon ungeduldig an ihrem Arm zerrte. »Kommen Sie, Mademoiselle, wir müssen Johnny suchen!«
Mary Stanton zog die Brauen hoch, aber Charmaine murmelte nur höflich »Guten Abend« und ließ sich bereitwillig ins Foyer ziehen. Als John nirgendwo zu finden war, schlug sie vor, nach oben zu gehen und sich für den Abend umzuziehen.
George ging es nicht gut. Er dachte unentwegt an Mercedes und wünschte so sehr, dass sie heute Abend an seiner Seite wäre. John hatte ihm allen Ernstes vorgeschlagen, um ihre Hand anzuhalten. Damit wäre Mrs Londons Drohung nichtig, und Mercedes könne tun, was ihr gefiel. Doch gestern Abend vor ihrer Zimmertür hatte er in letzter Minute kalte Füße bekommen und die schicksalsschweren Worte nicht über die Lippen gebracht. Wie ein Hornochse war er sich vorgekommen, doch heute bereute er seine Feigheit.
Als Frederic auf die Veranda trat, um eine Zigarre zu rauchen und sich mit zwei Gentlemen über Politik und Handelsfragen zu unterhalten, erspähte er Paul inmitten einer Gruppe von Gästen auf der Wiese. Anne London befand sich noch immer an seiner Seite. Nach ihrem Gespräch vor drei Wochen hatte er eigentlich angenommen, dass ihm Charmaine mehr bedeutete als eine vorübergehende Affäre und er sie heute als Tischdame wählen würde. Zudem hatte Jeannette ein neues Kleid erwähnt. Warum also hatte Miss Ryan die Kinder in diesem schlichten Kleid zu Tisch begleitet? Er erinnerte sich an seine Affären mit Agatha und Elizabeth und schauderte, wie ähnlich Paul ihm doch war. Er konnte nur hoffen, dass er nicht auch noch dieselben Fehler machte.
John klopfte an Mercedes’ Zimmer im zweiten Stock. Sie öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, doch die geschwollenen Augen sah er trotzdem. »Sie haben geweint.«
Mercedes drehte den Kopf zur Seite.
»Ich möchte Sie zum Ball abholen.«
»Aber … ich … ich kann nicht«, stammelte
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