Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
sie. »Mrs London würde mich sofort entlassen.«
»Sie wird keine Szene machen, glauben Sie mir. Sie will doch einen guten Eindruck auf meinen Bruder machen.«
»Trotzdem kann ich es nicht tun. Wenn sie mich heute nicht entlässt, dann eben morgen.«
»Ich habe so eine Ahnung, dass auch das nicht passiert.« Ein schiefes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Aber falls es Sie beruhigt, beschaffe ich Ihnen gern eine neue Arbeit. So oder so. Ich brauche unbedingt einen Hufschmied auf meiner Plantage.«
Lächelnd riss sie die Tür sperrangelweit auf. »Ist das wahr?«
»Das bin ich Ihnen auf jeden Fall für die Behandlung von Phantom schuldig.«
»Aber ich habe kein passendes Kleid!«
»Da bin ich ganz anderer Meinung. Mrs Londons Schrank quillt doch sicher vor teuren Kleidern über. Suchen Sie einfach eines aus, das sie noch nie getragen hat.«
Jeannette und Yvette wurden langsam ungeduldig. Von unten drangen erste Stimmen und leise Musik herauf. Offenbar trafen bereits die Gäste ein. Sie rannten auf den Balkon hinaus und sahen zu, wie ein Wagen nach dem anderen vorfuhr, wie fein gekleidete Gentlemen mit Zylinder ausstiegen und ihren eleganten Ladys aus dem Wagen halfen. Als der letzte Wagen davonfuhr, wurde es langsam Zeit, nach unten zu gehen. Zuvor warf Charmaine noch schnell einen sehnsüchtigen Blick auf ihr Ballkleid.
Unter lautem Jubel hüpften die Zwillinge in den Saal, wo bereits die ersten Paare tanzten. George drehte sich mit einer bildhübschen jungen Frau im Kreis. Sie hatte ihre Haare nur mit einem Band zusammengefasst und trug ein schlichtes Kleid. Wahrscheinlich ein Mädchen von den Inseln, dachte Charmaine. Anne London ließ Paul keine Sekunde aus den Augen, und immer wenn der Kotillon sie zusammenführte, schlangen sich ihre Arme wie Lianen um seinen Hals. Obwohl Charmaine die Frau nicht ausstehen konnte, ließ sie der Anblick der beiden in enger Umarmung seltsam kalt. Vermutlich hatte sie sich inzwischen daran gewöhnt.
Robert Blackford stand in der Nähe des Orchesters im Schatten und beobachtete seine Schwester. Als die Musikanten den ersten Walzer anstimmten, erhob sich Agatha und führte ihren Mann aufs Parkett. Besitzergreifend legte sie eine Hand auf seine Schulter und die andere um seine Taille. Sie trug ein blutrotes Gewand, das eine untadelige Figur betonte, um die sie jede Frau in ihrem Alter beneidete. Ihr Schmuck glitzerte im Kerzenlicht. Robert bewunderte seine Schwester. Sie war immer noch wunderschön. Für ihn die schönste Frau im Raum. Als Frederic die ersten Walzerschritte vollführte, ging die Phantasie mit Robert durch … Er durchquerte den Raum, tippte Frederic auf die Schulter und nahm dessen Platz ein. Doch als das Paar an ihm vorübertanzte, meuchelte Agathas strahlendes Lächeln seine Träume. Obwohl Frederic Mühe mit den Tanzschritten hatte, sah Agatha voller Stolz und Liebe zu ihm auf. Ja, Liebe war das richtige Wort. Nach all den Jahren traf Robert die Erkenntnis mit voller Wucht. Seine Schwester liebte diesen Mann, und sie hatte ihn schon immer geliebt.
Beim zweiten Walzer wagten sich auch Yvette und Jeannette auf die Tanzfläche. Als Yvette Joseph erspähte, der mit einem Tablett an der Wand lehnte, machte sie sich los, nahm ihm das Tablett aus der Hand und stellte es auf einen Tisch. Dann fügte sie Joseph und Jeannette zum Gaudium der Gäste zu einem Paar zusammen und schubste die beiden auf die Tanzfläche.
Plötzlich wurde es totenstill, dann entstand leises Gemurmel. Charmaine hob gerade den Kopf, als John mit Mercedes am Arm den Saal betrat. Die Zofe trug ein aufregendes grünbraunes Kleid, und das offene Haar reichte ihr bis zur Taille. Ein hinreißender Anblick.
Im ersten Moment fühlte sich Charmaine hintergangen. Außerdem verspürte sie einen Anflug von Eifersucht. Ihre Blicke suchten George, doch der tanzte noch immer mit der schwarzhaarigen Schönheit. Yvette rannte zu John und deutete auf Jeannette und Joseph. Ein Lächeln huschte über Johns Gesicht … doch Mercedes hatte nur Augen für George.
Als die Musik endete, führte John seine Begleiterin zu George hinüber. Sie wechselten einige Worte, und George grinste über das ganze Gesicht. Mercedes strahlte, als er seine Hand auf ihren Rücken legte … und im selben Augenblick ebbte Charmaines Eifersucht ab.
Während die drei noch miteinander redeten, trat Rose zu ihnen und zog John in einen schottischen Rundtanz mit sich fort. Sie hüpfte mit solch unglaublicher Energie, dass John alle
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