Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
inspizierte Charmaine die Tischkärtchen. Sie saßen zusammen mit Frederic, Agatha, Edward Richecourt und seiner Frau Helen, Geoffrey Elliot, Robert Blackford und einem Ehepaar aus North Carolina am selben Tisch.
In diesem Augenblick betrat Paul mit Anne London am Arm den Saal. Im grauen Gehrock mit schwarzer Hose und weißem Hemd bot er ein großartiges Bild, das die Blicke vieler Frauen auf sich zog. Mrs London trug ein schulterfreies Gewand nach neuester Pariser Mode mit engem Mieder und gerüschten Ärmeln, das von der Taille an weit und fließend zu Boden fiel. Der Ausschnitt war so tief, dass der elfenbeinfarbene Satin kaum das Mieder bedeckte und viel von ihrem cremeweißen Busen sehen ließ. Ihre Arme steckten in langen Handschuhen aus Spitze, an ihren Ohren glitzerten Diamanten, und ein Diadem schmückte die kunstvoll hochgesteckte Zopffrisur. Vermutlich hatte diese Toilette den ganzen Tag in Anspruch genommen, dachte Charmaine, denn sie hatte Mercedes seit dem Frühstück nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Nach dem Paar erschienen John und George in Gesellschaft von einigen Geschäftspartnern aus New York und Boston. Charmaine stockte der Atem, als sie John zum ersten Mal in formeller Kleidung erblickte. Bis auf die Nelke am samtenen Aufschlag seines Jacketts war er ganz in Schwarz gekleidet. Der Anzug brachte seine schlanke Gestalt und die breiten Schultern vollendet zur Geltung. Das Haar trug er ordentlich zurückgekämmt, die Koteletten waren frisch geschnitten, und sein Gesicht war glatt rasiert. Wenn er mit seinen Partnern aus dem Norden plauderte, ließen die lebendigen Blicke einen flinken Geist erahnen. Er sah wirklich beeindruckend aus und strotzte vor Selbstsicherheit, sodass Charmaine ihn unentwegt ansehen musste.
Den jüngeren Ladys ging es offenbar nicht anders. Unter dem beifälligen Nicken ihrer Mutter löste sich ein Mädchen aus ihrem Kreis, zückte ihre Tanzkarte und hielt sie John unter die Nase. Offensichtlich hatten die Gattinnen der Farmer und Händler eigene Pläne. Während die Gentlemen um Verträge und Geschäftspartner warben, hielten die Ladys einstweilen nach Ehemännern für ihre Töchter Ausschau. Mit einem Seufzer wandte Charmaine sich ab.
Kurze Zeit später führten die Diener die ersten Gäste zu ihren Plätzen. Charmaine holte Yvette und Jeannette und setzte sich zwischen den Mädchen an den Tisch, als Agatha ebenfalls ihren Platz einnahm. Frederic wartete, bis jedermann seinen Platz gefunden hatte, bevor er sich als Letzter setzte. Als Charmaine den Mädchen bedeutete, ihre Servietten auf dem Schoß auszubreiten, sah sie auf und bemerkte Frederics Blick. Tapfer widerstand sie dem Wunsch, die Augen niederzuschlagen, und gab ihm erst nach, als Frederic sich Edward Richecourt zuwandte. Während der erste Gang serviert wurde, begann ein Geigenquartett zu spielen, und ganz allmählich ließ Charmaines Anspannung nach.
Irgendwann blickte sie sich um und stellte fest, dass an jedem der Tische ein Mitglied der Gastgeberfamilie saß. Paul und Anne saßen am Tisch nebenan, wo eine ruhige Unterhaltung im Gange war. Als Pauls Blick Charmaines begegnete, lächelte er kurz zu ihr herüber. Anne bot ihren ganzen Charme auf und legte besitzergreifend ihre Hand auf die seine. Rose und George saßen am Tisch in ihrem Rücken, doch trotz lebhafter Gespräche um ihn herum wirkte George ein wenig verloren. Am Tisch daneben wurde eifrig diskutiert und gescherzt, wobei John wie immer im Mittelpunkt stand und seine Gäste bestens unterhielt.
Geoffrey Elliot ließ Charmaine die ganze Mahlzeit über nicht aus den Augen und zog sie immer wieder ins Gespräch, sobald sich ihre Blicke trafen. Helen Richecourt unterhielt sich ausführlich mit den Zwillingen, und immer, wenn die Mädchen nickten, tanzten ihre goldenen Löckchen. Überhaupt benahmen sich die Kleinen wie die Engel und legten beste Manieren an den Tag. Colette wäre stolz auf ihre Töchter gewesen.
Als die Tische für das Dessert abgeräumt wurden, sah Charmaine wieder einmal zu John hinüber. Er saß mit locker gekreuzten Armen leicht nach vorn gebeugt auf seinem Stuhl und war offensichtlich in eine Erzählung vertieft. Den ganzen Abend über hatte er kein einziges Mal zu ihr herübergesehen. Hatte er sie überhaupt bemerkt?
Nach dem Dessert komplimentierten die Bediensteten die Gäste aus dem Saal, damit der Umbau für den Ball beginnen konnte. Einige der Gäste begaben sich in den Wohnraum oder die Bibliothek, um etwas zu trinken,
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