Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
können Sie mir so etwas sagen?«
»Aber, Charmaine. Was Männer betrifft, sind Sie wirklich naiv. Glauben Sie etwa, dass John seit dem vergangenen Herbst keine Frau mehr im Bett hatte?«
»Er hat mir auch keinen Heiratsantrag gemacht, sondern Sie! Wenn Sie nicht einmal in der Verlobungszeit treu sein können, wie dann in einer Ehe?« John war gestern allein in seinem Zimmer und hat sich nicht mit der Nächstbesten ins Bett gelegt .
»Dann ist Ihnen nicht zu helfen! Sie sind jedenfalls die erste und einzige Frau, die ich jemals geliebt habe. John dagegen wird Colette niemals vergessen. Sie wissen das genauso gut wie ich.«
»Sie irren sich!«
»Ach, wirklich?« Es ärgerte ihn, dass sie ihm den Rücken zukehrte. Doch als er merkte, dass sie weinte, wurde er weich. »Kommen Sie, Charmaine, wir machen es einfach ungeschehen«, sagte er in schmeichelndem Ton. »Wir müssen nur Father Benito finden. Solange eine Ehe nicht vollzogen ist, kann man sie annullieren.«
»Nein!« Schluchzend entwand sie sich den Armen, die sich um ihre Schultern legen wollten. »Ich liebe John … und nicht Sie!«
Sein bekümmerter Blick stimmte sie sanfter. »Ich dachte wirklich, ich liebte Sie, Paul. Doch als John in Virginia war, habe ich ihn unendlich vermisst. Wenn er nicht wiedergekommen wäre, hätte ich gewusst, dass ich ihm nichts bedeute. Aber er ist gekommen … und er liebt mich auch. Er liebt mich wirklich ! Als ich Sie mit Anne auf der Wiese sah, hätte ich eigentlich gekränkt sein müssen, aber es hat mir nicht einmal wehgetan. Doch wenn John an Ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich mich in den Schlaf geweint.«
Die Sätze schnitten tief in seine Seele. Er konnte seine Wut kaum beherrschen. »Sie lügen!«
»Nein, Paul. Ich will Ihnen wirklich nicht wehtun, aber ich liebe John.«
Doch er hörte ihr gar nicht zu. »Sie sagen, Sie hätten mich mit Anne gesehen und es hätte Sie nicht berührt. Und dann findet John Sie heute Morgen betend in der Kapelle und sagt, Sie seien ganz durcheinander …« Er verstummte, während seine Gedanken eines zum anderen fügten. Dann starrte er sie an. »Sie haben die Nacht mit ihm verbracht, nicht wahr?«
Ihr Schweigen war Antwort genug.
»Sie kleine Närrin! Sie haben das Glück, das wir hätten teilen können, einfach weggeworfen! John wusste, wie anfällig und beeinflussbar Sie sind. Sehen Sie denn nicht, dass er Sie nur benutzt, um mir wehzutun?«
Sie schüttelte nur stumm den Kopf, doch Paul wollte sie genauso verletzen, wie sie das mit ihm gemacht hatte. »Wussten Sie eigentlich, dass John vor der Abreise vorgeschlagen hat, dass ich Sie heiraten soll?« Er lächelte über ihr verblüfftes Gesicht. »Es ist wahr! Sie können ihn gern fragen. Er liebt Sie nicht, Charmaine. Er benutzt Sie nur, und wenn er genug hat …«
»Hören Sie auf!«, schrie sie. »Ich hasse Sie! Verschwinden Sie endlich!«
Als er sich nicht vom Fleck rührte, stürzte sie sich auf ihn und trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. »Gehen Sie endlich! Hören Sie denn nicht? Gehen Sie!«
Frederic hörte das Geschrei und stieß die Tür zum Kinderzimmer auf. Charmaine war in Tränen aufgelöst. »Was geht hier vor?«
Paul fuhr herum. »Ich wollte gerade gehen.«
»Das halte ich auch für besser.« Frederic hielt Paul am Arm fest, als dieser sich an ihm vorbeidrängen wollte.
»Charmaine ist jetzt Johns Frau«, sagte er. »Vergiss das nicht.«
Paul hasste es, wie ein kleines Kind getadelt zu werden, und riss sich los. Frederic sah ihm nach, bis er den Raum verlassen hatte.
Charmaine rang um Fassung und wischte sich die Tränen ab. »Ich musste ja mit ihm reden, aber es war schrecklich. Ich habe ihn sehr verletzt.«
»Mag sein.« Frederic hob ihr Kinn mit einem Finger an, damit sie ihn ansehen musste. »Ich würde es allerdings eher als verletzten Stolz bezeichnen.«
»Ich wünschte, es wäre so einfach.«
»Lieben Sie John, Charmaine?«
»Von ganzem Herzen.«
»Das ist gut. John braucht diese Liebe, und ich glaube, dass er Sie genauso liebt. Im Lauf seines Lebens hat er viele harte Schläge einstecken müssen, aber durch Sie strahlt seine Zukunft plötzlich wieder hell. Diese Heirat hat mich sehr glücklich gemacht.«
John war außer sich, als er seinen Vater bei Charmaine antraf. Ganz offensichtlich hatte sie geweint. »Was geht hier vor?«
Erleichtert eilte Charmaine auf ihn zu. »Paul und ich hatten eine kleine Auseinandersetzung, aber dein Vater hat sie beendet.«
Johns Blick
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