Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
sich ins Arbeitszimmer, wo Paul um diese Zeit für gewöhnlich am Schreibtisch zu finden war. Als er die Tür hinter sich schloss, sah Paul von seinen Papieren auf.
»Wir müssen reden.«
Sein Bruder lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Ich höre.«
Ohne lange herumzureden, packte John den Stier bei den Hörnern. »Ich möchte, dass du Charmaine in Zukunft in Ruhe lässt.«
»So wie du?«
John schwieg.
Paul reagierte verärgert. »Mit anderen Worten: Das Spiel ist vorbei, und du hast gewonnen. Ist das so?«
»Es war schon lange kein Spiel mehr. Wenn du das begriffen hättest, wäre Charmaine vielleicht heute deine Frau. Doch es ist anders gekommen. Charmaine ist jetzt meine Frau, und du wirst sie als solche respektieren. Also lass sie in Ruhe und rede ihr kein schlechtes Gewissen ein, wenn in Wahrheit du nicht gewollt hast.«
Paul schnaubte. »Was ich zu Charmaine gesagt habe, geht nur uns beide etwas an.«
»Nein, Paul, du hast ihr Vorwürfe gemacht, die auch mich betreffen. Ich weiß, dass du aufgeregt warst, aber du hast gesagt, was du wolltest, und musst es nicht mehr wiederholen.«
»Da redet der Richtige«, empörte sich Paul. »Nachdem Vater Colette geheiratet hat, hast du ihr ständig zugesetzt … Selbst noch in der Nacht, als die Zwillinge auf die Welt kamen!«
»Colette hat damit nichts zu tun«, antwortete John ruhig. Er ließ sich nicht provozieren. »Wenn du Charmaines Gefühle beeinflussen willst, indem du ständig von Colette sprichst, so wirst du keinen Erfolg haben. Charmaine weiß, dass Colette ein Teil meiner Vergangenheit ist … und dass meine Liebe ganz allein ihr gehört.«
»Du bist dir deiner Sache sehr sicher, John. Doch sollte deine Liebe jemals wanken, bin ich sofort zur Stelle.«
Agatha stand im Foyer und betrachtete das große Porträt von Colette Duvoisin. Während der vergangenen Woche war fast jeder beim Betreten des Hauses für einige Augenblicke sprachlos stehen geblieben. Agatha erinnerte sich an begeisterte Bemerkungen und Fragen. Oh, ist sie nicht atemberaubend schön! Wer ist sie? Wieder spürte sie die bittere Galle in ihrem Hals. Mit verkniffenem Lächeln hatte sie Colettes Namen genannt und sich dann auf die nächste Kränkung gefasst gemacht: erstaunte Blicke und ein kaum wahrnehmbares Nicken, während die Besucher schnell die zweite Mrs Duvoisin mit der dritten verglichen. Nein, einer solchen Schmähung wollte sie sich nie wieder aussetzen.
Sie musterte ihre Gegnerin, die sie noch im Tod verfolgte. Du kleine Hure … den Vater und den Sohn! Warum fallen die Männer nur immer wieder auf solche Frauen herein? Die meergrünen Augen starrten von der Wand auf sie herunter. Verurteile, wen immer du willst. Mich wirst du von heute an nicht mehr quälen . Es wurde Zeit, dass das Bild der Dargestellten folgte und endgültig verschwand.
Sie klingelte nach Travis. »Ich will, dass dieses Bild verschwindet«, bedeutete sie ihm mit herrischer Geste, »und zwar sofort.«
Der Butler zögerte. Das Bild hing seit fast einer Dekade im Foyer. Außerdem wusste Travis, dass der Hausherr in Bezug auf Miss Colette sehr empfindlich reagierte.
»Sofort!«, schrie Agatha. »Ich sagte, sofort!«
Frederic wurde durch das laute Geschrei aufmerksam und kam herunter. »Was gibt es?«, fragte er scharf.
»Sieh nur, Frederic«, sagte Agatha, »das Bild sollte schon seit Längerem abgehängt werden. Schließlich …«
»Lassen Sie die Finger davon!«, herrschte Frederic den Butler an, während er seine Frau am Arm packte und in die Bibliothek zog.
Dort trafen sie auf Paul und John, doch bevor Frederic die beiden zum Verlassen des Raums auffordern konnte, entwand sich Agatha seinem Griff und verbündete sich mit ihrem Sohn. »Sag deinem Vater, dass ich jetzt Herrin dieses Hauses bin.«
Paul runzelte die Stirn und wandte den Blick ab.
»Ich habe einen großen Fehler gemacht, Agatha«, sagte Frederic.
Im ersten Moment war sie zufrieden, doch als er fortfuhr, packte sie das Entsetzen.
»Vor einem Jahr wollte ich wiedergutmachen, was ich dir vor vielen Jahren angetan habe. Doch ich habe die Situation nur verschlimmert. Wenn ich dich geheiratet hätte, als Paul noch klein war, hätte sich unser Leben vielleicht anders entwickelt. Doch inzwischen haben wir uns so verändert, dass wir das Theater nicht länger fortsetzen sollten.«
»Theater? Du nennst unsere Ehe ein Theater?«
»Hör mir zu, Agatha. In der Nacht nach dem Ball habe ich dir klar und deutlich gesagt, dass ich
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