Die Macht des Zweifels
einmal einen Blick auf die Wegbeschreibung, die er sich aus dem Computer runtergeladen hat, und biegt dann auf den Parkplatz einer High School. Teenager in Jacken von North Face blicken ihn flüchtig an, als er an ihnen vorüberkommt. Quentin geht zielstrebig über den Schulhof und um das Gebäude herum.
Dort liegen ein modernes Football-Stadion, eine ganz ordentliche Laufbahn und ein Basketballfeld. Gideon deckt gerade einen verschüchterten Centerspieler, der mindestens fünfzehn Zentimeter kürzer ist als er. Quentin schiebt die Hände in die Manteltaschen und sieht zu, wie sein Sohn sich den Ball schnappt und mühelos einen Dreier-Korb wirft.
Das letzte Mal, daà sein Sohn zum Telefon gegriffen hatte, um ihn anzurufen, war nach seiner Festnahme wegen Drogenbesitz gewesen. Und obwohl Quentin etliche bissige Bemerkungen über Vetternwirtschaft einstecken muÃte, hatte er dafür gesorgt, daà Gideon nicht ins Gefängnis muÃte, sondern in ein Rehabilitationszentrum kam. Aber Gideon hatte mehr erwartet, er wollte völlig straffrei ausgehen. »Als Vater bist du ein Versager«, hatte er Quentin bescheinigt. »Ich hätte mir denken können, daà du auch als Anwalt ein Versager bist.«
Jetzt, ein Jahr danach, hier auf dem Basketballfeld, dreht Gideon sich plötzlich um und erblickt Quentin. »Ach du ScheiÃe«, murmelt er. » Time! « Die anderen Jungs trotten zur Seitenlinie, trinken etwas und schälen sich aus der obersten Schicht Klamotten. Gideon kommt näher, die Arme verschränkt. »Bist du hergekommen, damit ich in irgendeine Tasse pinkel?«
Quentin zieht die Schultern hoch. »Nein, ich bin gekommen, um dir zuzuschauen. Um mit dir zu reden.«
»Ich hab dir nichts zu sagen.«
»Das ist erstaunlich«, erwidert Quentin, »ich hätte nämlich sechzehn Jahre nachzuholen.«
»Dann kommt es ja auf einen Tag mehr oder weniger nicht an.« Gideon dreht sich wieder zu dem Spielfeld um. »Ich hab zu tun.«
»Es tut mir leid.«
Der Junge hält inne. »Ja, klar«, murmelt er. Er stürmt zurück auf den Platz, schnappt sich den Ball und läÃt ihn in der Luft kreiseln â vielleicht um Quentin zu beeindrucken? »Los, los, los!« ruft er, und die anderen drängeln sich um ihn. Quentin geht weg. »Wer war denn das?« hört er einen von den Jungs fragen. Und Gideons Antwort, als er meint, Quentin sei auÃer Hörweite: »Irgend so ein Typ, der sich verlaufen hat.«
Aus dem Fenster der Arztpraxis in Dana-Farber kann Patrick den heruntergekommenen Stadtrand von Boston sehen. Olivia Bessette, die Onkologin, die in Pater Szyszynskis medizinischen Unterlagen aufgeführt war, ist erheblich jünger, als Patrick erwartet hatte â nicht viel älter als er selbst. Sie sitzt mit gefalteten Händen vor ihm, das lockige Haar zu einem praktischen Knoten gebunden, und tippt mit einem ihrer gummibesohlten weiÃen Clogs auf den Boden. »Leukämie ist eine Erkrankung der Blutzellen«, erklärt sie, »und chronische myeloische Leukämie bricht meistens bei Patienten aus, die vierzig, fünfzig Jahre alt sind â obwohl ich auch schon Fälle von Patienten unter DreiÃig hatte.«
Patrick fragt sich, wie es wohl ist, an einem Krankenhausbett zu sitzen und jemandem zu sagen, daà er nicht mehr lange leben wird. Vermutlich nicht viel anders, als mitten in der Nacht an eine Haustür zu klopfen und Eltern mitzuteilen, daà ihr Sohn bei einem Autounfall unter Alkoholeinfluà ums Leben gekommen ist. »Was passiert mit den Blutzellen?« fragt er.
»Blutzellen sind darauf programmiert, heranzuwachsen und eines Tages zu sterben, genau wie wir. Im Laufe ihres Lebens sollten weiÃe Blutkörperchen Infektionen bekämpfen, rote Blutkörperchen transportieren Sauerstoff, und Thrombozyten lassen das Blut gerinnen. Wenn man aber Leukämie hat, reifen die Zellen nicht heran ⦠und sie sterben nicht. Am Ende hat man dann eine Ãbervölkerung an weiÃen Zellen, die nicht funktionieren und die alle anderen Zellen überschwemmen.«
Patrick ist nicht direkt gegen Ninas Wunsch hier. Er will schlieÃlich nur abklären, was sie bereits wissen â nicht noch einen Schritt weitergehen. Er hat sich diesen Termin erschlichen, indem er behauptet hat, er arbeite für den stellvertretenden Generalstaatsanwalt. Mr. Brown, so hat Patrick erläutert,
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