Die Macht des Zweifels
Mörder, und der â abgesehen vom Gefängnis â sicherste Ort, um ein Gespräch zu führen, ist ein öffentliches Gebäude, in dem es von Gerichtsdienern nur so wimmelt.
Ich habe mir genau überlegt, was ich anziehe, und trage nicht das übliche konservative Kostüm, sondern eine Khakihose, einen Baumwollrollkragenpullover und Freizeitschuhe. Wenn Dr. Storrow mich ansieht, soll er nicht denken: Anwältin. Er soll sich an seine Mutter erinnern, wie sie auf dem FuÃballplatz an der Seitenlinie stand und ihn anfeuerte.
Als er das erste Mal etwas sagt, rechne ich fast damit, daà seine Stimme kippt. »Mrs. Frost, Sie waren Staatsanwältin in York County, ist das richtig?«
Ich muà nachdenken, ehe ich antworte. Wie verrückt ist verrückt? Soll ich so tun, als hätte ich Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, soll ich anfangen, auf meinem Pulloverkragen herumzukauen? Es dürfte nicht allzu schwer sein, einen so unerfahrenen Psychologen wie Storrow hinters Licht zu führen ⦠aber darum geht es nicht mehr. Jetzt muà ich ihm klarmachen, daà die Unzurechnungsfähigkeit nur vorübergehend ist. Damit ich freigesprochen werde, ohne umgehend irgendwo eingewiesen zu werden. Also lächle ich ihn an. »Sie können ruhig Nina zu mir sagen«, biete ich ihm an. »Und ja, das ist richtig.«
»Schön«, sagt Dr. Storrow. »Ich habe hier einen Fragebogen, der, äh, ausgefüllt und dem Gericht vorgelegt werden soll.« Er legt ein Blatt auf den Tisch, das ich schon tausendmal gesehen habe, vorformulierte Fragen, und beginnt zu lesen. »Stehen Sie unter Einfluà von Medikamenten?«
»Nein.«
»Wurde Ihnen früher schon einmal eine Straftat zur Last gelegt?«
»Nein.«
»Standen Sie je vor Gericht?«
»Tagtäglich«, erwidere ich. »In den vergangenen zehn Jahren.«
»Oh â¦Â« Dr. Storrow blinzelt mich an, als ob ihm erst jetzt wieder eingefallen ist, mit wem er redet. »Ach ja, stimmt. Tja, ich muà Ihnen diese Fragen trotzdem stellen, falls Sie einverstanden sind.« Er räuspert sich. »Ist Ihnen klar, welche Funktion der Richter in einem Gerichtsverfahren ausübt?«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
»Ich fasse das als ein Ja auf.« Dr. Storrow schreibt etwas auf sein Formular. »Ist Ihnen klar, welche Funktion der Ankläger ausübt?«
»Doch, ich denke, das weià ich so ungefähr.«
Wissen Sie, welche Aufgabe der Verteidiger hat? Ist Ihnen klar, daà die Staatsanwaltschaft versucht, Ihnen Ihre Schuld nachzuweisen? Die Fragen sind so albern. Fisher und ich werden diese lächerliche Befragung zu unserem Vorteil nutzen. Auf dem Papier, ohne die Modulation meiner Stimme, werden meine Antworten nicht absurd wirken, nur ein wenig ausweichend, ein wenig seltsam. Und Dr. Storrow ist zu unerfahren, als daà er im Zeugenstand glaubhaft machen könnte, daà ich die ganze Zeit über haargenau wuÃte, worum es ging.
»Was tun Sie, wenn vor Gericht etwas geschieht, das Sie nicht verstehen?«
Ich zucke die Achseln. »Ich würde meinen Anwalt nachfragen lassen, welchen Präzedenzfall es dafür gibt, damit ich den Sachverhalt nachschlagen kann.«
»Ist Ihnen klar, daà Ihr Anwalt nichts von dem wiederholen darf, was Sie ihm sagen?«
»Tatsächlich?«
Dr. Storrow legt das Formular auf den Tisch. Mit todernster Miene sagt er: »Ich denke, wir können diesen Teil abschlieÃen.« Er blickt auf die Handtasche, aus der ich einst eine Waffe gezogen habe. »Ist bei Ihnen je eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden?«
»Nein.«
»Haben Sie je wegen irgendwelcher psychischen Probleme Medikamente genommen?«
»Nein.«
»Haben Sie je aufgrund von Streà einen psychischen Zusammenbruch gehabt?«
»Nein.
»Haben Sie je zuvor eine Waffe besessen?«
Ich schüttele den Kopf.
»Haben Sie je irgendeine Form von psychologischer Beratung in Anspruch genommen?«
Die Frage läÃt mich stocken. »Ja«, gebe ich zu und denke an den Beichtstuhl in St. Anneâs. »Und das war der schlimmste Fehler meines Lebens.«
»Wieso?«
»Als ich herausgefunden hatte, daà mein Sohn sexuell miÃbraucht worden war, ging ich zur Beichte in meiner Kirche. Ich habe mit meinem Priester darüber gesprochen. Und dann erfuhr ich, daà er der Schweinehund war, der meinem
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