Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
nichtssagend und den klaren Linien der Architektur wenig angemessen. Hochlehnige, mit dickem roten Samt bespannte Stühle, ein großer Esstisch, und in jeder Ecke aufwändig geschnitzte Kerzenhalter. Ein Tischchen, auf dem eine Leier lag. Ein weiteres mit einer geschnitzten Jadestatuette, die aus dem Orient stammen musste.
Dort, wo keine Spiegel hingen, waren die Wände mit Gobelins verziert, in denen sich die üppigen Muster und Bilder der farbig ausgemalten Stuckdecke wiederholten, hauptsächlich von Blumenranken und Arabesken umrahmte Motive aus der griechischen Mythologie.
Im Kamin knackte ein Scheit, und an dem Geräusch vor den geschlossenen Fenstern erkannte Sanchia, dass es draußen regnete. Gerade dachte sie, wie vollkommen doch die Stille in diesem Haus war, als die Schreie einsetzten.
Zuerst glaubte sie an eine Sinnestäuschung oder meinte, den Wind im Gebälk des Hauses zu hören. Doch dann erkannte sie, dass es ein menschliches Heulen war. Es schien von weit her zu kommen und war nicht allzu laut. Sie musste die Ohren spitzen, um es überhaupt richtig wahrnehmen zu können. Nach einer Weile hatte sie die Richtung eingegrenzt, aus der es kam: aus dem Obergeschoss.
Ohne zu zögern, stand Sanchia von dem Stuhl auf. Mit einem kurzen Blick überzeugte sie sich davon, dass ihr Patient ruhig schlief, dann verließ sie die Kammer und ging durch den Portego zur Innentreppe des Gebäudes. Der Treppenaufgang befand sich hinter einem prachtvoll herausgeputzten Bogendurchgang an der gegenüberliegenden Seite des Saales, in einem Bereich, der weniger repräsentativ als vielmehr praktisch gestaltet war, mit ungeschmücktem Mauerwerk, nicht allzu breiten Steinstufen und einfachen, bleigefassten Fenstern. Auf halber Höhe der Treppe befanden sich der Abtritt und der Zugang zu den Vorrats- und Gesinderäumen im Mezzanin, dem Halbgeschoss auf Höhe des Eingangsbereichs.
Hier im Treppenhaus waren die Schreie deutlicher zu hören. Sie klangen wie das Geheul einer bis aufs Blut gemarterten Seele. Sanchia ging nach oben, an einem weiteren Stockwerk mit Schlaf- und Wohngemächern vorbei und hinauf ins Dachgeschoss, wo sie mit wenigen Schritten den schmalen Gang durchmaß, von dem mehrere Türen abgingen. Der Raum, aus dem die Schreie kamen, lag am Ende des Flurs. Die Tür war unverschlossen und führte in eine Kammer, in der vollständige Finsternis herrschte. Es roch nach Schweiß und Urin und Angst. Sanchia orientierte sich kurz, dann hatten ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt und sie konnte das Fenster erkennen, ein mattes graues Rechteck in der Schwärze. Als sie quer durch den Raum eilte, um die Läden zu öffnen, stolperte sie über einen Gegenstand. Sie fiel der Länge nach hin und schlug sich das Kinn an den Holzbohlen auf, doch es tat nicht allzu weh. Die Schreie hatten aufgehört, sobald sie das Zimmer betreten hatte; stattdessen war nun mühsames Atmen zu hören.
Sanchia rappelte sich hoch, stieß die Fensterläden auf, öffnete die Scheibe einen Spalt weit und drehte sich um. Im matten Licht des schwindenden Tages sah sie einen alten Mann im Bett liegen, der sie aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Speichel lief ihm aus den merkwürdig herabhängenden Mundwinkeln, und seine Hände lagen zu Klauen gekrümmt auf der ordentlich hochgezogenen Bettdecke. Er wurde nicht vernachlässigt, das erkannte Sanchia sofort. Sein Haar war gekämmt, sein Gesicht sauber und die Wäsche fleckenfrei. Auf einem Tisch lag ein Stapel frischen Leinens, was darauf hindeutete, dass er regelmäßig gewindelt wurde. Er wurde auch ausreichend ernährt, was leicht an seiner Haut und seinem Gesicht zu erkennen war. Dass seine Arme und Beine so dürr waren wie Zaunstecken, lag einzig an der mangelnden Bewegung, wie Sanchia wusste. Es musste schon länger her sein, dass ihn der Schlag getroffen hatte, vielleicht schon fünf Jahre oder mehr. Der Muskelschwund setzte binnen kürzester Zeit ein und war nicht aufzuhalten.
Auf einem Tischchen stand ein Kerzenhalter und in einer Schale daneben lag Feuerbesteck. Sanchia zündete die Kerze an, um zusätzliches Licht zu schaffen. Den Leuchter in der Hand, ging sie auf den alten Mann zu und blieb einige Schritte vor dem Bett stehen. »Fehlt Euch etwas? Könnt Ihr mich verstehen?«
Er verstand sie zweifelsohne, denn er holte Luft und gab ein durchdringendes Stöhnen von sich.
»Habt Ihr Schmerzen?«
In seinen Augen stand solche Angst, dass sie am liebsten die Läden wieder
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