Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
totale Zerstörung auf der anderen.
Er ging die Stiege hinauf in den Wohnbereich. Die Kammern, in denen einst Piero, Bianca und Sanchia gelebt hatten, waren bis auf einige Kleinigkeiten unverändert. Was hätte er auch besser machen können?
Nur eine der drei Kammern, der Raum, in dem die Kleine geschlafen hatte, unterschied sich auf grundlegende Weise von dem damaligen Kinderzimmer. Er bewahrte dort seine persönlichen Dinge auf.
Pasquale holte seinen schweren wollenen Überwurf aus der Truhe und vertauschte die Zòccoli gegen schwere Lederstiefel. Nachdem er eine Hand voll Dukaten aus seiner Geldkassette abgezählt und in seinen Beutel gesteckt hatte, verharrte er auf dem Weg zur Tür mitten im Schritt, eingefangen von ungezählten Augen, die ihn aus allen Ecken und Winkeln des Zimmers anstarrten und festnagelten.
Düstere Männer betrachteten ihn von allen Seiten. Er stand mit hängenden Armen im Zimmer und bot sich ihren von Abscheu erfüllten Blicken dar. Ein hölzerner Stecken, wo andere Männer einen unversehrten Fuß hatten. Eine grellrote Narbenwüste unter seiner linken Braue. Kinder verwechselten ihn oft mit dem Höllendämon, und ihre Eltern taten nichts, um sie von dieser Meinung abzubringen.
Mit dem Auge hatte er mehr Glück gehabt als mit dem Fuß. Es war ihm erhalten geblieben, und er konnte damit sehen, wenn auch nicht mehr allzu gut. Dennoch zog er es vor, eine schwarze Binde darüber zu tragen, womit er seinen Mitmenschen zugleich ersparte, sein zerstörtes Gesicht betrachten zu müssen.
Die Spiegel, die ringsum an den Wänden hingen, schienen ihn zu verhöhnen. Du Krüppel, riefen sie ihm zu, mit hohlen, gewölbten oder verzerrten Stimmen, schief, gebogen, dunkel oder gesprungen, gerade so, wie sie geformt waren. Sie entsprachen seinem Wesen, diese verunglückten, unzureichenden Spiegel, sie waren Monstrositäten wie er selbst.
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir reden«, sagte eine Stimme vom Gang her.
Er schaute auf. In der offenen Tür der Kammer stand Sanchia.
Nach dem ersten Schreck fackelte er nicht lange. Er packte sie beim Arm und zerrte sie ungeachtet ihrer Proteste die Stiege hinunter und durch den Vorhof der Werkstatt zur Anlegestelle vor dem Haus.
Im Tor der Glaserei stand Vittore, der sich unablässig bekreuzigte und dabei die Augen fast so weit aufgerissen hatte wie den zahnlosen Mund. Vermutlich war er davon überzeugt, einem Wunder der Auferstehung beizuwohnen.
»Das hast du ja bestens hinbekommen«, stieß Pasquale hervor.
»Was? Dass ich meinem rechtmäßig angestammten Elternhaus nach so vielen Jahren endlich einen Besuch abstatte? Dass ich dem Mann, der schon zweimal mein Leben gerettet und der mich auf den Knien geschaukelt hat, als ich ein kleines Kind war, meinen Dank entbieten möchte?«
»Wo ist dein Boot?«, knirschte Pasquale zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Im nächsten Moment sah er es bereits. Es war ein neuerer Sàndolo mit einem stabilen Mast und weißer Takelage. Zwei Personen befanden sich auf dem Boot, von denen eine sich drohend erhob, als Pasquale Sanchia über den Steg vorwärtsschubste, ein großer, brutal aussehender Glatzkopf mit einem Gesicht, das fast so vernarbt war wie sein eigenes. Aller Unvorsicht zum Trotz hatte sie immerhin einen Begleiter im Gefolge, der nicht nur aussah, als könnte er im Kampf bestehen, sondern auch ein paar Stunden lang kraftvoll das Ruder führen.
Die andere Person war eine junge Frau, die ihn ungläubig anstarrte. Unwillkürlich langte Pasquale zur Tasche seines Wamses, wo er die Augenbinde stecken hatte. Er hatte vorhin vergessen, sie anzulegen.
Doch dann dachte er nicht länger an seine Entstellung, denn als er Sanchia losließ, nutzte sie das sofort aus, um erbost zu ihm herumzufahren. »Wenn du meinst, dass du mich einfach aus dem Haus meiner Eltern zerren, in das Boot werfen und wegschicken kannst, bist du im Irrtum! Ich bleibe hier und gehe nicht eher, bis du mir Rede und Antwort stehst!«
Pasquale schaute sich verstört nach allen Seiten um. Die Tore der umliegenden Häuser waren samt und sonders weit zum Kanal hin geöffnet. Überall waren Handwerker und Lieferanten zu sehen. Auf dem Rio dei Vetrai herrschte wie immer um diese Tageszeit reger Verkehr. Boote, Gondeln und Flöße bewegten sich dicht an dicht über die Wasserfläche, und auf jedem einzelnen von ihnen gab es Augen und Ohren. Dasselbe galt für die benachbarten Werkstätten. Drüben bei den Sanudos hatten sich bereits ein
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