Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
geschlossen und das Zimmer still verlassen hätte. Obwohl sie ihm keinen Grund gegeben hatte, sich vor ihr zu fürchten, schaute er sie an, als sei in ihr die Medusa zum Leben erwacht. Ratlos rieb sie ihr aufgeschürftes Kinn.
»Ich wünschte, ich wüsste, wie ich Euch helfen kann!«
Auf dem Kissen neben seinem Gesicht glänzte etwas, das aussah wie ein goldener Faden. Sanchia trat zum Bett, wie von einem Magneten gezogen. Der alte Mann atmete schneller und blickte sie gequält von unten herauf an.
»Habt keine Angst, ich tue Euch nichts.«
Sein Wimmern ließ keinen Zweifel daran, dass er vom Gegenteil überzeugt war. In ihrem Nacken sträubten sich winzige Härchen, und mit einem Mal spürte sie eine dunkle, namenlose Bedrohung. Die Welt schien sich vor ihren Augen zu verschieben, um im nächsten Moment zu einem veränderten Bild zusammenzuspringen.
Sie ergriff den Faden und zupfte ihn vom Kissen. Es war ein langes, hellblondes Haar.
Pasquale wartete, bis er das Gefühl hatte, der richtige Moment sei gekommen. Er konnte nie genau sagen, wann es so weit war. Manchmal hatte er den Eindruck, er müsse noch ein paar Herzschläge länger warten, bis er die Flüssigkeit auf die Fläche goss, manchmal war es schon früher so weit. Vittore behauptete regelmäßig, es sei Zauberei, genau wie das Ergebnis seiner Arbeit.
Die Glasfläche, die er heute bearbeitete, war größer als sonst. Wie bei seiner zweiten Leidenschaft, dem Schwarzpulver, kam es auch bei der Spiegelherstellung darauf an, sich fortlaufend zu steigern, ohne dabei voreilig zu sein. Wollte man zu schnell zu viel, kam es unweigerlich zur Katastrophe.
Inzwischen galt er auf Murano als würdiger Nachfolger von Piero, dem Glasbläser, jedenfalls was den Grad der Verrücktheit betraf. Daran zweifelte er nicht einmal selbst, wogegen er seine übrigen Fähigkeiten seiner Meinung nach auch in hundert Jahren nicht mit denen seines verstorbenen Meisters würde messen können.
Er hob das Gefäß mit dem Quecksilber und ließ eine vorsichtig bemessene Menge auf die mit Zinn bestrichene Glasfläche träufeln. Nahm man zu viel, verdarb die Fläche sofort, war es zu wenig, wurde der Spiegel löchrig. Es kam vor allem auf die richtige Mischung an. Pasquale verteilte das Quecksilber zügig mit dem Spatel auf der Zinnschicht. Quecksilber war die Masse, die für die Reinheit der Reflexion unverzichtbar war.
Ein Glashändler aus Deutschland, den er vor einer Weile beim Fondaco dei Tedeschi getroffen hatte, war davon überzeugt, dass der perfekte Spiegel einen Silberüberzug haben müsse, und er hatte sogar behauptet, in Deutschland habe man bereits angefangen, auf diese Weise Spiegel herzustellen.
Pasquale war nicht so vermessen, diese Möglichkeit in Bausch und Bogen zu verwerfen, doch nach Anfertigung einiger kleiner Probestücke hatte er am Kosten-Nutzen-Verhältnis dieser Technik beträchtliche Zweifel. Folglich experimentierte er einstweilen weiter mit Zinn und Quecksilber. Eine Methode herauszufinden, wie die Mischung perfektioniert werden konnte, schien ihm lohnender, als ein Vermögen an Silber für nichts und wieder nichts zu verschwenden. Solange ihm niemand einen Silberspiegel zeigte, würde er zuerst diesen Weg zu Ende gehen. Bis jetzt waren seine Spiegel immer noch besser geworden statt schlechter.
Seit er entdeckt hatte, dass ein zusätzlicher Kupferüberzug die Reflexion erheblich steigerte, war er davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. In seiner Vorstellung würde er eines Tages einen Spiegel von der Werkbank nehmen, in dem er sich sehen konnte wie jeden anderen beliebigen Menschen, der ihm Auge in Auge gegenüberstand, ohne Verzerrung, Blendung oder Vergröberung.
Er konzentrierte sich vollständig auf seine Aufgabe, nahm jedoch auf einer untergeordneten Ebene immer noch die Geräusche und Vorgänge in der Werkstatt wahr.
Marino trug gemeinsam mit einem anderen Gesellen eine fertige Scheibe aus der Werkstatt in den Lagerraum, um sie für den Transport auf die Terraferma vorzubereiten. Ein reicher Patrizier hatte Fenster für seinen Landsitz bestellt.
Nicolò blies an einem Tisch Cristallo für eine Serie wertvoller Trinkgläser, aufmerksam beobachtet von einem Lehrjungen. Zwei weitere Lehrjungen schleppten Brennholz herbei und heizten die Öfen, die unter der Woche niemals ausgingen. Zwei Träger kamen durch das offene Tor auf der Kanalseite in die Halle, wankend unter der Last von Sandsäcken.
Vittore arbeitete nicht. Er behauptete, noch
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