Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
paar Leute versammelt, die den ungewohnten Aufmarsch auf dem Steg neugierig beäugten.
Pasquale sprang kurzerhand in den Sàndolo, mit dem Sanchia hergekommen war. Er stolperte, weil er nicht auf sein Bein aufgepasst hatte – auf das hölzerne –, und kämpfte um sein Gleichgewicht. Der große Bursche streckte lässig die Hand aus, packte ihn bei der Schulter und stützte ihn. Mit der anderen Hand fasste er Sanchias Arm, um ihr ins Boot zu helfen, und im nächsten Augenblick hatte er bereits die Fangleine vom Steg gezogen und abgelegt. Pasquale blieb kaum Zeit, die Effizienz des Muskelprotzes zu registrieren, denn im nächsten Moment zuckte er unter der Schimpfkanonade zusammen, die Sanchia auf ihn losließ. Sie titulierte ihn mit beleidigenden Attributen, von denen noch das harmloseste war, dass er ein herzloser, gemeiner Kerl sei, der die Belange eines unschuldigen Kindes mit Füßen trete.
»Mit einem Fuß«, warf die andere junge Frau boshaft ein. Sie hockte auf der Querstrebe im Heckbereich und musterte ihn mit undeutbarer Miene. Pasquale widerstand dem Impuls, sich unter dem Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen zu ducken. Sie war ein paar Jahre älter als Sanchia und hatte ein herzförmiges Gesicht, nicht schön, aber auf seltsame Weise anziehend. Ihr Körper war üppig geformt, und obwohl sie saß, war zu erkennen, dass sie für eine Frau ungewöhnlich groß war. Unter der Kapuze ihres teuer aussehenden Umhangs war braunes, gewelltes Haar zu sehen, von dem sich einige Löckchen in ihre Stirn verirrt hatten.
Sanchia lenkte mit einem Laut des Unwillens seine Aufmerksamkeit erneut auf sich und funkelte ihn an. »Warum antwortest du nie auf meine Briefe?«
»Ich kann weder lesen noch schreiben.«
»Das ist nicht wahr! Und wenn doch – es gibt genug Leute, die dir dabei hätten helfen können! Ich weiß, dass du seit der Plünderung in den letzten Jahren mindestens dreimal im Kloster warst! Die Äbtissin hat es mir erzählt! Warum besuchst du mich nie? Alle Kinder bekommen hin und wieder Besuch von ihrer Familie!«
»Ich habe keine Familie.«
Sanchia holte Luft und starrte ihn an. Ihre Augen schwammen in Tränen, und Pasquale fühlte sich genau wie der Schurke, den sie offenbar in ihm sah. Er wusste nicht, was er denken sollte. Das letzte Mal, auf dem Dach des Klostergebäudes, war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie fast eine Frau, und eine wütende dazu. Der Schock über ihr Auftauchen steckte ihm in den Knochen, und am meisten verstörte ihn, dass sie aussah wie ihre Mutter. Wie ihre richtige Mutter.
»Das Haus, zu dem wir damals gefahren sind – die Ca’ Caloprini – ich bin gestern wieder dort gewesen. Und ich habe dort etwas gefunden, was mich geradewegs in die Vergangenheit geführt hat!«
Er ahnte, dass ihm der Schreck ins Gesicht geschrieben stand, denn in Sanchias Augen blitzte ein Hauch von Triumph auf.
»Du weißt etwas über das, was dort vorgeht, und du wirst es mir sagen!«
»Ich weiß gar nichts.« Pasquales Blicke pendelten zwischen der braunhaarigen jungen Frau und dem großen Kahlkopf hin und her.
»Das ist Eleonora, meine Mitschwester und Vertraute. Und Girolamo ist nicht nur ein treuer Freund. Er wird auch niemals einem Menschen von dieser Unterhaltung erzählen.«
Pasquale prallte zurück, als der Muskelprotz ihm seinen Kopf zuwandte und ihm die verstümmelte Zunge herausstreckte. Dabei ruderte er weiter, als sei das eben das Normalste von der Welt gewesen. Mit geschickten Lenkmanövern bahnte er sich den Weg zwischen zwei sperrigen Holzflößen hindurch, auf denen die Händler lauthals über das Wasser hinweg miteinander palaverten.
Pasquale spürte die anklagenden Blicke der Frauen auf sich. Er kämpfte gegen seine wachsende Beklommenheit an und griff an seinen Beinstumpf, um die Prothese zu lösen. Die Stelle hatte angefangen zu schmerzen. Als er vorhin so leichtfüßig ins Boot gesprungen war, hatte sie einen üblen Schlag abbekommen.
Sie hatten die Mündung des Kanals erreicht, der die Glasinsel teilte, und Girolamo machte sich daran, das Segel zu hissen. Es hatte angefangen zu regnen, und obwohl Pasquale sich sagte, dass er schon bei schlimmerem Wetter durch die Lagune gesegelt war, wünschte er sich nichts sehnlicher, als in der Nähe der warmen Schmelzöfen zu sitzen und für die nächsten Wochen keinen Fuß vor die Tür zu bewegen.
»Der schwarze Sklave hat mich geholt, weil der Sohn des Hauses verletzt war und Pflege brauchte.«
»Die Leute haben genug
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