Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
bringt.
»Sanchia, sieh mich an«, befahl er.
Sie öffnete die Augen wieder. »Lorenzo.« Sie sprach seinen Namen aus. Zum ersten Mal und von Angesicht zu Angesicht. Ihre Stimme klang rau und unbeholfen, es war fast wie damals, als sie so lange überhaupt nicht geredet hatte.
Wie von eigenem Leben beseelt, stahl sich ihre Hand aus den Falten ihres Kleides nach oben, über seine Brust und seinen Hals hin zu seinem Kinn. Ihre Fingerspitzen zitterten ein wenig, als sie über die stoppelige Haut seines Gesichts glitten und auf seiner Wange liegen blieben.
Ihr Herzschlag setzte einen Takt aus, als er seine Hand über ihre legte und damit ihre Finger fest gegen sein Gesicht drückte, eine Geste, die so rührend und vertrauensvoll war, dass sie ihr als das Intimste erschien, was sie je erlebt hatte. Ihre Blicke verhakten sich ineinander, in endloser, atemloser Stille.
»Lorenzo«, wiederholte sie nach einer Weile des Schweigens flüsternd. Diesmal ging es ganz leicht. »Lorenzo …«
Seine Augen waren halb geschlossen, doch in seinem Blick flammte etwas auf, das die Atmosphäre zwischen ihnen schlagartig änderte. Es war Begierde, das erkannte sie trotz ihrer Unerfahrenheit, aber sie begriff gleichzeitig auch instinktiv, dass es weit über die reine Körperlichkeit hinausging, machtvoll und so ungewohnt, dass alle Worte der Welt nicht ausgereicht hätten, um es zu beschreiben. Plötzlich schien die Luft zu summen vor Spannung, wie nach einem Blitzschlag, der die Erde glimmend und bebend zurücklässt.
Im nächsten Moment hatte er sie an sich gerissen, und sein Mund verschlang den ihren in einem ungezügelten, beinahe rohen Kuss. Er knurrte tief in der Kehle wie ein ausgehungertes Tier, und seine Hände zerrten an ihrem Kleid, suchten ihre nackte Haut.
Seine Leidenschaft schlug einen Funken aus der Asche und setzte sie in Flammen, und als sie das Dröhnen seines Herzschlags an ihrer Brust fühlte, ließ sie sich widerstandslos in diesen hitzigen Taumel fallen, der sie davonwirbeln ließ, in eine wilde, unbekannte Ferne.
Pasquale beeilte sich, die beiden letzten Spiegel an den vorher berechneten Stellen anzubringen. Sein Kunde wurde bereits ungeduldig, was einerseits an der unmenschlichen Hitze liegen mochte, andererseits aber auch an seiner Gier, endlich das vollständige Ergebnis vor Augen zu haben.
Der junge Grimani war von aufbrausendem Wesen, und wenn ihm etwas gegen den Strich ging, konnte er regelrecht gemein werden. Er hatte Pasquale nicht geschlagen, aber viel hatte nicht gefehlt. Stattdessen hatte er herumgebrüllt, ihn einen unfähigen Krüppel geschimpft und wenig später unter einem Vorwand die kleine schwarze Sklavin verprügelt, die vermutlich an anderen Tagen seine krankhaften Neigungen im Bett aushalten musste.
Pasquale bedauerte die Kleine, nahm es aber ansonsten mit Gleichmut. Sollte Enrico Grimani ihn doch beleidigen, wenn ihm danach war. Pasquale verfolgte höhere Ziele, und auf dem Weg dorthin würde er noch die eine oder andere Blessur einstecken müssen, ob diese nun körperlicher oder seelischer Art war. Das schien ein Naturgesetz zu sein. Tatsächlich war es sogar so, dass genau das dem großen Plan eine besondere Würze zu verleihen schien. Lautlos lachend betrachtete er sich in der Spiegelfläche, die sein Gesicht als scheußlich verzogene Fratze wiedergab. Er sah sich am liebsten in diesen Zerrspiegeln, schienen sie doch so wirklichkeitsgetreu sein Bild zu zeigen wie kein anderer, noch so perfekter Spiegel.
»Was gibt es da zu feixen?«, fuhr Enrico Grimani ihn an. »Bin ich so lustig?«
»Ich untersuche nur die Reflexion«, gab Pasquale freundlich zurück.
Grimani fluchte unterdrückt und ging unruhig auf und ab, ein Bündel unausgelebter Aggressionen. Er war elegant gekleidet wie immer, aber die kleinen Nachlässigkeiten bestimmten sein Äußeres mehr als der Glanz seines seidenen Wamses oder die perfekte Passform seiner eng anliegenden Calze. Hier ein Fleck auf der Hemdbrust, dort ein zerrissenes Band oder ein Loch im Gewebe, dunkle Schweißränder unter den Achseln – es war unverkennbar, dass er sich gehen ließ.
»Seid Ihr immer noch nicht fertig? Wie lange dauert das denn? Wozu gebe ich eigentlich mein gutes Geld aus? Für einen stümperhaften, einäugigen, einbeinigen Idioten, der nicht einmal einen Nagel richtig in die Wand schlagen kann?«
»Es ist gleich so weit.«
»Seht Euch vor, Fiolero!«, fauchte Grimani. »Macht Eure Sache gut, sonst …«
Zum ersten Mal kam
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