Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Lichteinfall. Sanchia öffnete beide Flügel, die zum Kanal hinausführten. Draußen war es warm, es war noch kein Hauch von Herbstkühle zu spüren, obwohl der September sich bereits dem Ende zuneigte. Über der schillernden Wasseroberfläche tanzten Mücken, und wenn die Sonne hoch stand, so wie jetzt um die Mittagszeit, schien der Sommer unvergänglich. Auf der Fondamenta gegenüber döste eine Katze in der Sonne, unbeeinträchtigt von dem Radau um sie herum. Ein paar Jungen, barfuß und in kurzen Hosen, spielten ein Kriegsspiel mit bunten Stoffwimpeln und Stöcken, die Arkebusen darstellen sollten. Sie legten aufeinander an und simulierten die Explosionsgeräusche der Schusswaffen oder taten so, als seien sie getroffen worden. Schreiend sanken sie zu Boden, um gleich darauf wieder aufzuspringen und erneut auf den Gegner loszugehen.
In Italien herrschte Krieg, und auch in Venedig standen die Zeichen auf Sturm. Von überall her drang die Nachricht von Tod und Vernichtung in die Lagune. Die Franzosen hatten im letzten Monat die Alpen überschritten und Asti genommen. Ihre Flotte hatte die neapolitanischen Streitkräfte zur See besiegt, und das Heer des Herzogs von Orleans war im Begriff, die Landtruppen bei Rapallo ebenfalls zu schlagen.
Die Katze regte die ganze Zeit über nicht ein einziges Glied, und erst, als einer der Jungen beim Spiel achtlos auf sie trat, wurde klar, dass das Tier tot war.
Sanchia erschauerte, beide Hände in der Schale mit dem Essigwasser. Mit einem Mal schien es ihr, als zögen sich dunkle Wolken über den Dächern der Stadt zusammen, wie die Ahnung kommenden Unheils.
»Ist Euch kalt?«, fragte Maddalena. »Soll ich das Fenster wieder schließen?«
»Nein, wir brauchen das Licht.« Sanchia rückte zwei Stühle dichter ans Fenster. Einer davon war deutlich höher als der andere. Auf diesem würde Simon sitzen, um einen besseren Blickwinkel nach unten zu bekommen, direkt auf die getrübten Augen.
»Tut die Operation nicht entsetzlich weh?«, fragte Maddalena. Sie war keine Schönheit mit ihrer langen Nase, den unregelmäßigen Zähnen und ihrem dünnen Haar, doch in ihren Augen leuchtete es vor nie versiegender Zuversicht und unstillbarem Wissensdurst. Von ihrer ganzen Erscheinung ging eine solche wache Energie aus, dass niemand, der je mit ihr gesprochen hatte, auf die Idee kam, sie reizlos zu finden.
»Es ist ziemlich unangenehm«, antwortete Sanchia. »Aber er wird es erdulden. Die Hoffnung, wieder sehen zu können, lässt die am Star erkrankten Menschen einiges aushalten.«
Sie erstarrte, als sie inmitten der spielenden Jungen jemanden auftauchen sah, den sie kannte. Ihre Hände stießen gegen den Rand der Schale mit dem Essigwasser, und um ein Haar hätte sie das Gefäß umgeworfen. Die dürre Gestalt in der weißen Kutte mit dem schwarzen Kapuzenmantel darüber, das hagere, ernste Gesicht mit den hervortretenden Augen und dem vorgewölbten Kropf – nein, das war unmöglich. Er existierte nur noch in ihren bösen Träumen. Kein Mensch wusste, was aus ihm geworden war. Nach Albieras Tod war er verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Niemand hatte mehr von ihm gesprochen, und Menschen, über die niemand mehr sprach, waren meist tot.
Doch in dem Fall war es anders. Er lebte, und schlimmer noch: Er war hier. Sanchia trocknete mechanisch ihre Hände an dem von Maddalena gereichten Tuch ab und schaute hinüber auf die Fondamenta auf der anderen Seite des Rio. Er war aus einer Gondel gestiegen, zusammen mit einem dicklichen Mann in den Dreißigern, den sie noch nie gesehen hatte. Die rote Knollennase und die schweren Lider des Dicken zeugten von einem nicht allzu gesunden Lebenswandel. Er trug ein schlicht gewebtes, braunes Wams und sackartige Beinkleider, die ebenso schlaff herabhingen wie sein fransiger Bart und sein Haar, das er schulterlang trug.
Bruder Ambrosio sah hingegen aus wie eh und je. Eine Gestalt wie ein abgemagerter Storch, schütteres Haar, die Augen wie dicke Glaskugeln in dem ausgezehrten Gesicht. In seiner Kutte wirkte er wie ein dunkles Gespenst, das aus der Vergangenheit zurückgekehrt war.
Zwei der Jungen sprangen auf die Mönche zu und bettelten um Almosen, worauf der gedrungene Begleiter des Mönchs ausholte und einem der Jungen eine harte Kopfnuss verpasste. Die beiden Kinder wollten sich verdrücken, doch Ambrosio hielt sie zurück, warf ihnen einige Münzen zu und stellte eine Frage.
Sanchia schrak zurück, als der größere der beiden Jungen die Hand
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