Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
ausstreckte und auf das Spital deutete, direkt auf das offene Fenster. Sanchia wich einen Schritt zurück und hielt die Luft an. Beide Männer kamen über die Brücke näher und hielten auf den Haupteingang des Gebäudes zu.
Der blinde Kaufmann wurde von seinem Diener ins Zimmer geführt.
»Setzt ihn auf den Schemel«, sagte Sanchia zerstreut, den Blick immer noch nach draußen gerichtet. Im nächsten Moment verschwanden die beiden Männer aus ihrem Blickfeld, und sie wandte sich dem Kaufmann zu.
Der Patient wirkte leicht benommen, er hatte bereits von dem mit Opium und Bilsenkraut versetzten Wein getrunken, den Simon seinen Patienten bei solchen Eingriffen verabreichte.
Simon kam ebenfalls herein. Er nahm auf dem höheren Stuhl Platz, die Beine vor dem Patienten gespreizt, sodass dieser wie in einer geöffneten Muschel saß.
»Ich werde Euch vorher sagen, was ich mache. Ihr solltet ruhig Angst vor dem Eingriff haben, aber es darf nicht die Angst vor dem Unbekannten sein. Die Technik ist kein Geheimnis und schon gar nicht das Wunder, als das viele meiner Kollegen sie gern darstellen. Es ist nichts Göttliches dabei, sondern reine Anatomie und Präzision. Leider ist das menschliche Auge in seiner Zusammensetzung nicht so gut erforscht wie andere Teile des Kopfes, aber gewisse Dinge weiß man heute schon. Ihr habt den Star, das bedeutet, ein Teil Eures Auges ist trübe geworden und versperrt Euch die Sicht. Mit einer speziellen Nadel werde ich von vorn in Euer Auge stechen, in den trüben Teil hinein, und ihn nach unten und hinten wegdrücken.« Die Stimme des jüdischen Arztes war sachlich, als unterhielte er sich über das Wetter. »Das wird der Moment sein, in dem Ihr das Verlangen spüren werdet, mir das Instrument aus der Hand zu reißen und mich damit zu töten. Aber natürlich werdet Ihr es nicht tun, denn damit lauft Ihr Gefahr, Euer Auge ganz zu verlieren. Versteht Ihr? Es würde einfach auslaufen, unwiederbringlich verloren gehen, wenn ich zu tief stoße oder zur Seite abgleite.«
»Ich werde stillhalten«, versprach der Blinde mit dumpfer Stimme.
»Schreit ruhig, wenn Euch danach ist. Ich bin darauf vorbereitet.«
Der Diener, der sich neben das geöffnete Fenster gestellt hatte, schluckte wie ein erstickender Fisch. Er war bleich wie verschimmelter Käse und machte auch sonst ganz den Eindruck, lieber woanders zu sein.
»Geht bitte vom Fenster weg«, bat Sanchia. »Wir brauchen jeden Lichtstrahl.«
Er gehorchte, indem er einen Satz zur Tür tat, einen Haken schlug und gleich darauf verschwunden war.
»Wer seid Ihr?«, fragte der Kaufmann, als er Sanchias Fingerspitzen auf seinem Gesicht spürte. Sie lockerte vorsichtig die verkrampfte Muskulatur um seine Augen herum und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie befahl sich, nicht an den Mönch zu denken.
»Sie ist Pflegerin in diesem Spital und seit vielen Jahren meine Assistentin. Wäre sie ein Mann, wäre sie einer der besten Ärzte der Stadt.«
»Das ist sie auch so«, sagte Maddalena.
»Noch ein Weib«, brummte der Blinde. »Und ein junges dazu. In welcher Zeit leben wir eigentlich?«
»Es wird eine Zeit kommen, in der auch Frauen gute Ärzte sein dürfen«, behauptete Maddalena mit derselben festen Stimme wie eben.
»Gott steh uns bei«, stöhnte der Kaufmann.
»Wenn Ihr mir nicht vertraut, sollten wir das hier vielleicht lassen.« Simon suchte die Starnadel aus der Instrumentensammlung an seinem Gürtel heraus und rieb sie mit einem in Essig getränkten Tuch ab, das Sanchia ihm reichte.
»Wenn ich Euch nicht vertraute, hätte ich mich nicht auf diesen Stuhl gesetzt. Fangt an.«
Ohne Umschweife hob Simon das Instrument und fuhr damit vor den Augen des Blinden hin und her. Der Kaufmann starrte blicklos ins Leere, er konnte nichts sehen. Simon gab Sanchia das Zeichen, und sie fasste von hinten um den Kopf des Patienten herum. Mit beiden Daumen und Zeigefingern rahmte sie das rechte Auge des Blinden ein und zog kräftig Ober- und Unterlid vom Augapfel weg, bis das Auge fast völlig bloßlag. Gleichzeitig presste sie den Hinterkopf des Mannes gegen ihren Körper und sorgte so für weitgehende Unbeweglichkeit. Sie war voll konzentriert, und wenn sie überhaupt noch an den Dominikanermönch dachte, dann nur ganz am Rande ihres Bewusstseins. Später würde sie sich mit seinem Auftauchen befassen müssen, das wusste sie. Aber nicht jetzt. Auf keinen Fall jetzt.
Simon legte den Unterarm gegen die Schulter des Mannes, und als seine Hand die
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