Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
zurückbringt.«
Simons pferdeähnliche Züge verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »In manchen Fällen geht es gut, in vielen anderen misslingt es.«
Sanchia wusste, dass zuletzt nacheinander zwei seiner Patientinnen an den Folgen einer Staroperation gestorben waren. Seither ließ er die Finger davon. Natürlich war es Schicksal, oder genauer: Zufall. Gegen plötzliche Entzündungen war niemand gefeit. Es mochte am Patienten selbst liegen, der nicht die vorgeschriebenen Pflegehinweise beachtet hatte, oder ganz einfach an der körperlichen Konstitution. Manche Menschen erholten sich rasch nach einer Operation, andere bekamen schon Stunden später Fieber und starben. Niemand konnte sagen, warum es den einen traf und den anderen verschonte.
»Ich bin schon blind. Schlimmer kann es nicht werden.«
»Ihr lebt. Das ist der Unterschied zu dem, was geschehen kann.«
»Dieses Risiko gehe ich ein.«
Simon löste die Hand des Mannes von seinem Kittel. »Hört mir zu. Wenn ich Euch den Star steche, werdet Ihr mitnichten wieder sehen. Wer Euch das erzählt hat, lügt. Ihr könnt vielleicht hell und dunkel unterscheiden. Manche Patienten erkennen auch die Umrisse von Personen, und ich hörte sogar von einem oder zweien, dass sie mit einer Lupe Geschriebenes entziffern konnten. Aber richtig sehen – Farben, Bilder, Menschen – werdet Ihr nie wieder können.«
»Das ist mir egal. Mir reicht jede Kleinigkeit. Ich akzeptiere alles, was immer daraus wird. Hauptsache, Ihr versucht es. Danach kann ich immer noch für den Rest meines Lebens blind bleiben, wenn Gott es so fügt.« Der blinde Kaufmann packte den Arzt erneut bei der Schulter und ließ nicht mehr los. »Ich zahle Euch, so viel Ihr wollt. Was verlangt Ihr? Hundert Dukaten? Zweihundert?«
Simon gab sich geschlagen. Sanchia merkte es an der Art, wie der Arzt resigniert den Kopf hängen ließ. Auf das Geld war er nicht versessen, er hatte keine Familie, lebte in einer günstigen Mietwohnung und hatte ohnehin keine freie Minute, etwas für sich auszugeben. Aber er nahm das Geld für das Spital an, denn es hatte jeden Soldo bitter nötig. Die vom Kloster eingebrachte Stiftung schüttete nie genug Gelder aus, und der zweite Träger, die Schustergilde, geizte ebenfalls mit den verfügbaren Mitteln. Die Kranken scherten sich nicht darum, ob genug Geld für ihre Behandlung da war. Sie wurden gebracht und blieben bis zur Heilung oder bis sie starben, und Simon und der ihm zur Seite gestellte Verwalter konnten schauen, wie alles zu schaffen war. Pflegekräfte waren knapp. Die Arbeit war undankbar, musste sie doch zu jeder Tages- und Nachtzeit und auch an den Sonntagen verrichtet werden. Überdies war sie so schlecht bezahlt, dass kaum jemand sich dafür begeistern mochte. Einfache Männer und Frauen verdingten sich lieber als Mägde oder Knechte in privaten Haushalten oder als Hilfskräfte im Arsenal, eine Tätigkeit, die nicht minder hart und eher noch schlechter entlohnt war, aber dafür nur von Sonnenaufgang bis -untergang dauerte und bei der man sich nicht mit allen möglichen bekannten und unbekannten Krankheiten ansteckte.
Der Blinde ließ seinen Diener vortreten, und ein Beutel mit Goldstücken wechselte den Besitzer.
»Sanchia«, sagte Simon müde, während er mit einer mechanischen Bewegung seine Kippa zurechtrückte. Offensichtlich hatte er vor, es gleich zu erledigen.
»Sofort.« Sie verband eilig das Bein der alten Frau und bat Maddalena, sich um die Kranke zu kümmern. Das Mädchen war dreizehn Jahre alt und so wissbegierig, dass Sanchia ihre Gesellschaft als seltenen Glücksfall empfand. Ihr Vater war ein Bruder des Dogen, und sie selbst war die vierte Tochter von insgesamt sechs, von denen schon zwei andere hier im Kloster lebten.
»Sollt Ihr dem Medicus assistieren?«, fragte das Mädchen.
Sanchia nickte und wusste bereits, was als Nächstes kam.
»Bitte, darf ich beim Starstechen zusehen?«
Sanchia zögerte, doch dann zuckte sie die Achseln. Wie hätte sie es dem Mädchen verbieten können? Sie selbst hatte ihre erste Staroperation im Alter von acht Jahren beobachtet und seither immer wieder. Gemeinsam mit Maddalena verließ sie die Halle und ging in einen der kleineren Behandlungsräume im hinteren Bereich des Spitals. Die Kammer hatte eine verschließbare Tür, und wenn hier Schreie laut wurden, so konnte man sie in der Halle und den übrigen Krankenzimmern nicht so deutlich hören. Außerdem gab es hier ein großes Fenster mit gutem
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