Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
blutrünstig sie vorgehen konnte, hatte sie bereits während der Plünderung nachhaltig unter Beweis gestellt.
Auch mit Eleonora konnte man nicht darüber reden, denn die war ohnehin nervös wie eine Straßenkatze, weil Pasquale seit der Anwesenheit des Mönchs nicht mehr kam.
Das Beste für alle Beteiligten wäre, der Dominikaner würde so bald wie möglich wieder verschwinden, doch Sanchia bekam mit jedem Tag, den seine Inspektionen fortdauerten, immer mehr den Eindruck, dass er es genoss, auf diese Weise seine Macht auszuspielen. Kein Zweifel, er wähnte sich in Sicherheit, da niemand Anklage gegen ihn erhoben hatte. Seine Blicke wurden höhnischer, sein Auftreten bei den Zellenkontrollen immer dreister.
Einmal, nach der Vespermesse, sah Sanchia, wie er eine der jungen Nonnen, ein kaum achtjähriges Mädchen, im Kreuzgang vor dem Refektorium gegen die Wand drängte, ihr die Haube herabriss und in ihr Haar fasste. »Was haben wir denn hier? Ist das etwa langes Haar? Warum ist es nicht geschnitten? Wie kommst du dazu, als ein dem Herrn geweihtes Geschöpf mit langen Locken herumzulaufen? Und wo ist dein Habit?«
Rote Flecken verunstalteten die fahle Haut seines Gesichts und die Glatze innerhalb der Tonsur, und seine Augen traten so weit hervor, dass die Kleine verängstigt aufschrie.
»Sie ist gestern erst hier angekommen«, sagte Sanchia mit scharfer Stimme. »Das Bekleidungszeremoniell steht ihr noch bevor. Lasst sie gehen, oder ich werde Euch melden.«
Sie ließ das letzte Wort absichtlich bedeutungsvoll klingen.
Er fuhr zu ihr herum, die Augen geschlitzt und den Mund zu einem erwartungsfrohen Lächeln geöffnet. »Sieh an, die blonde Educanda. So spricht man sich nach vielen Jahren wieder.«
»Ich habe nichts vergessen«, sagte Sanchia ruhig, bemüht, das klamme Gefühl von Furcht, das bei seinem Gesichtsausdruck in ihr aufsteigen wollte, zu unterdrücken.
Die kleine Nonne huschte davon, und eine Gruppe von drei oder vier anderen, die im Vorbeigehen stehen geblieben waren, um den Disput zu verfolgen, gingen auf einen wütenden Blick des Mönchs hin ebenfalls hastig weiter.
»Ich kann mich ebenfalls noch an alles erinnern«, flüsterte der Dominikaner. »An jeden Schnitt, jede Wunde. An die Schmerzen, den Eiter, den Gestank. Wie kann ein Mensch derlei je vergessen?« Er trat nahe an sie heran, bis sein muffiger Körpergeruch und sein leicht nach Fisch stinkender Atem sie umwehte wie eine unliebsamer Windhauch. »Denkt an, Ihr holdes Wesen, ich weiß noch viel mehr als das. Zum Beispiel, dass Euer schönes helles Haar wieder bis zur Hüfte reicht.« Er dämpfte seine Stimme weiter, bis sie nur noch ein klebriger, kaum hörbarer Hauch war. »Besorgt er es Euch gut, Euer adliger junger Hengst aus der Ca’ Caloprini, wenn er nicht gerade im Auftrag des Zehnerrats der Diplomatie frönt? Und hat die dralle Köchin, mit der Ihr die Kammer teilt, Freude an der Manneskraft eines einäugigen, einbeinigen Spiegelmachers? Lasst es mich wissen, Ihr beiden Holden, wenn Euch die Künste der jungen Herren nicht mehr ausreichend erscheinen. Vielleicht können wir gemeinsam auf den rechten Weg zurückfinden, den des wahren, einzigen Herrn, unseres Schöpfers im Himmel.« Er bekreuzigte sich, und sein Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Fanatismus und Heimtücke, löste in Sanchia einen Würgereflex aus. Die Hand vor Mund und Nase gedrückt, wich sie einen Schritt zurück, sich mit der anderen Hand an einer Säule abstützend, um das Gefühl der Schwäche in den Beinen auszugleichen.
»Wisset«, zischte der Mönch ihr grinsend ins Gesicht, »es gibt viele Taten, auf welche der Tod steht!«
Sie schluckte die bittere Galle, die in ihrer Kehle aufstieg, dann drehte sie sich um und floh.
In ihrem Kopf jagte ein wirrer Gedanke den nächsten, als die restlichen Stunden des Tages verstrichen, ohne dass der Himmel sich auftat und die Stunde des Jüngsten Gerichts anbrach. Das Gefühl, das gesamte Unheil müsse sich in einem Donnerschlag entladen, wurde immer übermächtiger, je weiter der Abend voranschritt.
»Was ist los mit dir?«, fragte Eleonora. »Du bist so stumm. Fast so wie früher.«
»Ich hatte heute einen schwierigen Fall.«
»Eine schlimme Krankheit?«
»Sehr schlimm.«
»Dass du dich trotzdem mit so einem armen Menschen befasst …«
»Manchmal geht es nicht anders.«
»Ja, aber du hast doch die freie Wahl.« Eleonora kniete mit vornüberhängendem Kopf vor dem Waschzuber in ihrer gemeinsamen
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