Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Spieß, der passend zu seiner Körperlänge gekürzt worden war. »Verschwindet, ihr kleinen Ungeheuer! Macht, dass ihr fortkommt, sonst werde ich euch Manieren beibringen!«
Die Fenster der Zellen im Untergeschoss des Dogenpalastes lagen dicht über dem Boden. Manche wiesen auf das Bacino di San Marco, andere zur Piazetta oder auf den Rio di Palazzo. Die Zelle, in der die Frauen saßen, befand sich im östlichen Bereich nahe der Kanalseite, dicht bei der Brücke, wo den Schaulustigen weniger Platz blieb, um ihre Spielchen mit den Gefangenen zu treiben. Die Kinder flüchteten in einem kreischenden Pulk auf den Ponte della Paglia und taten dabei so, als ob er ihnen tatsächlich Angst einjagte, doch aus sicherer Entfernung warfen sie mit Steinen nach ihm und bedachten ihn mit verächtlichen Zurufen. »Nani, der Kurze, Nani der Kurze! Tut immer so groß und ist nur so winzig! Nani, ist dein Ding in der Hose auch so klein wie du?«
Er wich den heranfliegenden Geschossen aus und blieb dann mit dem Rücken zum Gebäude vor dem Zellenfenster stehen, nach außen hin jeder Zoll ein aufrechter Wärter, der die Lage im Griff hatte und unerwünschte Schaulustige fernhielt.
Giustinianos Dienst war seit dem Wachwechsel zu Ende, weshalb er auch den Zellentrakt nicht betreten konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Dass er überhaupt außerhalb seiner Arbeitszeit hier an dieser leicht einsehbaren Stelle auftauchte, war nach Lage der Dinge wohl weit mehr, als man von ihm hatte erwarten können. Sanchia fragte sich, was Pasquale ihm dafür geboten hatte. Es musste genug sein, sonst hätte der Zwerg sicherlich mehr Vorsicht walten lassen.
Als er weitersprach, hielt er sich den Speer vors Gesicht, beide Hände in Mundhöhe um den Schaft gelegt, sodass die Bewegungen seiner Lippen verborgen blieben.
»Als ich beim Kloster war, ließ die Äbtissin mich rufen. Sie sagte mir, sie habe einen Mann hergeschickt, der sich für Euch verwenden würde. Sein Name ist Sagredo. Sie sagte außerdem, sie habe den Großvater von Eleonora informiert und hoffe das Beste. Sie habe ferner einen Boten zu Eurem … ähm, zu Eurem jungen Mann gesandt. Und … ähm, sie meinte, falls alles nicht helfe, werde sie dieselben Maßnahmen ergreifen wie damals während der Plünderung des Klosters.« Giustiniano hielt inne und räusperte sich. »Bei dem Haus, das Ihr mir genannt habt, war ich vorhin auch noch. Es war niemand da, nur ein schwarzer Sklave. Ich habe ihm Eure Botschaft gegeben und ihm aufgetragen, sie seinem Herrn zu übermitteln. Ich wollte schon wieder gehen, als eine verschleierte Dame dazukam. Sie sagte, sie sei die Mutter und werde dafür sorgen, dass ihr Sohn die Nachricht erhalte.«
Sanchia schwirrte der Kopf, und beklommen fragte sie sich, was sie mit diesem Auftrag losgetreten hatte.
»Es ist völlig ausgeschlossen, dass Ihr bei Tag die Flucht versucht«, flüsterte Giustiniano eindringlich. »Ihr müsst bis zur Nacht warten, dann habt Ihr vielleicht eine kleine Chance. Aber nicht jetzt, wo fast alle Büttel des Palastes auf den Beinen sind und Euch in Windeseile schnappen würden, egal wie Ihr es anstellt.«
»Wir können nicht bis zur Nacht warten«, sagte Giulia. »Sie werden uns noch vor der Mittagsstunde wieder zum Verhör holen. Danach steht mir nicht der Sinn.«
»Denkst du immer nur an deine eigenen Belange?«, fuhr Sanchia sie an.
»Nein, ich bin lediglich realistisch.«
»Dass andere Gefahr laufen, ihr Leben zu verlieren, interessiert dich wohl überhaupt nicht!«
»Das siehst du völlig richtig«, gab Giulia gelassen zurück. Sie drehte Sanchia ihr Gesicht zu, und im zunehmenden Licht der Morgensonne, die schräg durch die Gitterstäbe in die Zelle fiel, war zu erkennen, wie bleich sie war. »Mich geht nur mein eigenes Leben was an. Und das meines Sohnes.« Sie hatte sich weder die restliche Nacht noch den Morgen über von der Pritsche wegbewegt. In steifer Haltung saß sie auf der Strohmatratze, die Arme locker vor der Brust verschränkt und das Gesicht zur Wand geneigt.
Auch Eleonora hockte immer noch in derselben Position an der Wand, die sie in der Nacht eingenommen hatte. Sie hatte stundenlang stumm in die Luft gestarrt, bevor sie kurz vor Sonnenaufgang in einen unruhigen, von Stöhnen unterbrochenen Schlummer gesunken war.
Giulia wandte sich an Giustiniano. »Geh zu einer Maria Baretti. Sie wohnt in Canareggio in einem Häuschen in der Nähe der Franziskanerkirche San Giobbe. Frag nach ihr, die Leute kennen sie. Sie ist
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