Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
bestickten Wams und Calze, deren Seide so fein gesponnen war, dass sie in der Morgensonne schillerte.
Im ersten Moment glaubte sie, einem Trugbild erlegen zu sein. Ihr Kopf war immer noch nicht ganz klar nach dem heftigen Schlag, und die Schmerzen, die ihr seit ihrem Erwachen zusetzten, gingen nicht nur mit Übelkeit, sondern auch mit Gleichgewichts- und Sehstörungen einher. Sie war ernstlich verletzt worden, und nun litt sie unter Erscheinungen.
Doch dann kam er näher, und sie begriff, dass er ein Teil der Wirklichkeit war. Sein Haar war glatt aus der Stirn gekämmt, in einer kühnen Welle, die den markanten Schwung seines Profils abrundete. Die lockigen Spitzen wippten auf seinen goldbetressten Schultern, im selben Takt wie das Schwertgehenk an seiner Seite und die abgeschabte Lederscheide des Dolches an seinem Gürtel. Seine Arme schwangen locker hin und her, sein Schritt war leichtfüßig und sicher. Seine zielgerichteten Bewegungen und die souveräne Haltung seines Körpers schienen ihm Autorität im Übermaß zu verleihen, doch Sanchia konnte einen kurzen Moment lang seine Augen sehen. Sein Blick verriet höchste Anspannung, und seine Lippen waren zusammengepresst, Zeichen seiner Nervosität. Als er den Zwerg vor dem Zellenfenster stehen sah, wurde sein Blick wachsam, seine Schritte kürzer. Sanchia presste die Faust gegen ihre Brust, als könnte sie damit ihr stolperndes Herz zur Ruhe zwingen. Er war gekommen! Er war tatsächlich hier!
Giulia hatte sie beobachtet. Von der Pritsche aus konnte sie den Bereich unter den Arkaden vor dem Fenster nicht einsehen, doch offenbar war ihr auch so klar geworden, was vor sich ging.
»Der Ritter vom Heiligen Gral ist aufgetaucht«, murmelte sie in einer Mischung aus Spott und Sorge. »Der Himmel sei uns gnädig.«
Sanchia stützte sich an der Wand ab, in dem sicheren Bewusstsein, dass ihr gleich die Sinne schwinden würden. Im Arkadengang vor den Zellenfenstern war eine Patrouille von zwei Bewaffneten erschienen! Es war schwer zu sagen, ob sie auf einem üblichen Kontrollgang unterwegs waren oder eigens aufmarschierten, um eine auffällige Situation zu untersuchen.
Sanchia schloss die Augen, und als sie wieder hinschaute, sah sie, wie Lorenzo mit den Wächtern sprach und wie sie gleich darauf nach einer ehrerbietigen Verneigung ihre Runde fortsetzten. Ihre Stiefel hallten auf dem Pflaster, als sie davongingen und aus ihrem Blickfeld verschwanden.
Lorenzo kam noch näher und blieb dann vor Giustiniano stehen. »Ich habe es vorhin erst von Rufio erfahren«, sagte er leise, als spräche er zu niemandem im Besonderen. »Hab keine Angst. Ich werde alles tun, um dich hier rauszuholen. Mein Vater hat zugesagt, alle Hebel in Bewegung zu setzen. Rufio ist schon mit einer Botschaft zu Grimani unterwegs, er hat den meisten Einfluss im Rat und wird alle Vollstreckungsmaßnahmen aussetzen. Ich werde bis dahin persönlich dafür sorgen, dass dir kein Leid geschieht. Jacopo Sagredo ist auch hier, er spricht bereits mit dem diensthabenden Wachmann und findet heraus, was gegen dich vorliegt.«
Sanchia nickte und erkannte erst mit einiger Verzögerung, dass er das von seiner Warte aus nicht sehen konnte. Sie kam sich lächerlich und hilflos vor und fragte sich, was um alles in der Welt ein Orangenverkäufer in dieser Lage für Hilfe leisten sollte.
»Eleonora ist ebenfalls hier in der Zelle«, sagte sie mit trockenem Mund. »Und … ähm, Giulia auch. Es wäre sehr angebracht, wenn du für die beiden dasselbe tun könntest wie für mich.«
Sie spürte seine Verblüffung mehr, als dass sie es an einem sichtbaren Zeichen hätte erkennen können. »Giulia …? Was um …«
»Ich würde ja aufstehen, um dich zu begrüßen«, sagte Giulia von der Pritsche her. »Aber ich fürchte, ich bin momentan ein bisschen unbeweglich. Es ist so: Wenn ich aufstehe, falle ich wahrscheinlich in Ohnmacht. Solange ich mich nicht rege, bleibe ich bei Bewusstsein. Fragt mich nicht, was besser ist, aber im Augenblick ziehe ich es vor, bei Verstand zu bleiben und den Fortgang der Dinge verfolgen zu können.«
Sanchia drehte sich zu ihr und musterte sie verständnislos. Schließlich begriff sie. »Du bist verletzt.«
»Ach, wie aufmerksam von dir«, höhnte Giulia.
»Was haben sie dir angetan?«
»Ich sagte doch, ich habe mich beim Verhör verstockt gezeigt.«
»Um Gottes willen …« Lorenzos Stimme von weiter oben klang erschüttert.
»Wurdest du gefoltert?«, fragte Sanchia entsetzt. »Warum
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