Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
eine gute Freundin. Vielleicht hat sie Marco geholt.« Drängend fügte sie hinzu: »Ich gebe dir Geld dafür. Viel Geld. Oder … andere Dinge, die du willst. Dinge, von denen du vielleicht sonst immer nur träumst …« Ihre Stimme bekam einen lockenden Klang. Sanchia konnte nicht erkennen, was der Zwerg darüber dachte, da er ihnen nach wie vor den Rücken zugewandt hatte und sie vom Zelleninneren aus nur seine stämmigen, in soliden Wollstrumpfhosen steckenden Waden sehen konnte.
Sie hatte also noch ein weiteres Kind bekommen, einen Jungen namens Marco.
Sanchia unterdrückte die aufkommenden Fragen und gab sich nebenher redlich Mühe, jeden Gedanken daran zu verdrängen, was Giulia jetzt durchmachen musste. Ihr war längst klar, dass die Frau nur halb so gefasst war, wie sie sich gab. Dessen ungeachtet sah sie ein, dass Giulia Recht hatte. Je früher sie von hier verschwanden, umso besser. Sie selbst hatte geglaubt, es sei eine gute Idee, Lorenzo eine Nachricht zukommen zu lassen, doch sie hätte gleichzeitig auch damit rechnen müssen, dass es Caterina zu Ohren kommen würde. Damit hatte sie ihre Situation kaum verbessert.
Sanchia erschauerte. Die beißende nächtliche Kälte war verflogen, aber es war immer noch kühl. Doch nicht die niedrigen Temperaturen waren der Grund dafür, dass ihre Hände und ihre Beine zitterten und sich taub anfühlten. Sie machte sich klar, dass sie erbärmliche Angst hatte. In ihrem Leben hatte es schon andere Situationen gegeben, in denen sie sich in akuter Lebensgefahr befunden hatte. Die Nacht, in der ihre Eltern gestorben waren, die Nacht, in der Albiera gestorben war – zwei Nächte, in denen ihr eigenes Dasein so dicht vor dem Verlöschen gestanden hatte wie eine Kerze, die jemand in den Sturm hinausträgt. Und doch war sie jetzt hier, halbwegs gesund und in der Lage, sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Zufall oder Gottes Wille?
In der letzten Zeit hatte sie viel über den Einfluss Gottes auf ihr Leben nachgedacht und war sich längst nicht mehr schlüssig, ob das Dogma seiner Allgewalt wirklich so unabänderlich über allem stand, wie Pater Alvise es stets zu predigen pflegte.
Wie jeder aufmerksame Leser, der sich mit den griechischen Philosophen befasst hatte, war sie den vernunftmäßigen Aspekten, die der menschliche Wille mit sich bringt, so weit aufgeschlossen, dass sie sich Fragen stellte. Jeder Gedanke an Häresie war ihr fremd, sie würde sich nie erdreisten, die Existenz Gottes in Abrede zu stellen. Doch der Allmächtige hatte den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und ihn mit der Macht freier Entscheidungen ausgestattet. Was brachte diese dem Menschen aber, wenn er sie nicht nutzte und alles, was ihm an Kühnheit, Klugheit und Sachverstand zu Gebote stand, in die Waagschale warf, um sein Leben selbst zu bestimmen? Lag es nicht in Gottes Ratschluss, dass der Mensch handeln möge, statt ergeben darauf zu warten, dass sich sein Schicksal erfüllte?
War es der Wille Gottes oder ihr eigener, dass sie diese hitzigen Nachmittage in einem schäbigen, uralten Palazzo verbrachte, in dem ein einziges, zum Kanal weisendes Zimmer herausgeputzt war wie eine Braut vor der Hochzeitsnacht? Nur die Wände dieses für die Liebe geschmückten Zimmers waren Zeuge ihrer Leidenschaft geworden, ihrer ungezähmten, lüsternen Begegnungen mit einem Mann, den sie vielleicht nie wiedersehen würde. Der Mann, der nicht nur ihren Leib, sondern auch ihr Herz besaß, mit einer Selbstverständlichkeit, die sie niemals würde leugnen können, sosehr sie es auch je versuchen mochte. Und sie hatte es versucht, weiß Gott. Aber ohne jeden Erfolg, im Gegenteil: Nie war jemand kläglicher mit der Durchsetzung seines Willens gescheitert als sie mit ihrem Bestreben, sich Lorenzo Caloprini aus dem Kopf zu schlagen.
Warum musste sie einen Mann lieben, der ihr Verderben brachte?
War dies vielleicht eine jener Fügungen, die tatsächlich der Allmacht des Herrn unterstanden, allen Bemühungen um einen freien Willen zum Trotz? Oder einfach eine absurde, von tragischen Elementen durchsetzte Komödie voller Verwicklungen, wie sie Boccaccio hätte ersinnen können?
Im nächsten Moment sah sie ihn. Er kam über die Brücke geschritten, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, zu einem Zellenfenster im Halbgeschoss des Dogenpalastes zu gehen, elegant gekleidet wie ein Patrizier auf dem Weg zu einer Sitzung des Großen Rates, mit einem strahlend weißen Hemd unter dem reich
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