Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
schweifen, während zwischen den beiden Frauen eine Debatte darüber entbrannte, welches Ziel für sie am günstigsten sei. Als Eleonora kundtat, sie habe schon immer London kennen lernen wollen und Giulia daraufhin in belustigtem Tonfall vorschlug, sie solle doch lieber gleich nach Indien fahren, stand Sanchia auf und schritt die Anhöhe hinauf.
Bei einem der Bäume blieb sie stehen. Die Hand an den Stamm gelegt, wandte sie sich dem Landinneren zu – und hielt unwillkürlich die Luft an. Zum Teil noch unter Morgennebel verborgen, war die Landschaft, die sich vor ihren Augen ausbreitete, von atemberaubender Fremdheit. Die Weite des Landes, so völlig frei von sichtbaren Zeichen städtischer Kultur, schien ihr so einsam, dass sie zwinkern und ein zweites Mal hinschauen musste, um es richtig zu begreifen. Hier und da klebte ein winziges Dorf an den Hängen, doch dazwischen lagen Entfernungen, die Sanchia so gewaltig erschienen wie die Strecke von einem Ende der venezianischen Lagune bis zum anderen.
Und all das hier war festes, solides Land – ein unbeweglicher Grund aus Erde und hartem Fels, der sich so hoch auftürmte, dass man weit übers Meer hinausschauen konnte. Alles schien fest, unverrückbar und bestürzend weiträumig. Keine Paläste wuchsen hier aus dem Wasser, kein Wellenspiel plätscherte zwischen Ufermauern, es gab keine Gondeln, die sich in bunter Vielfalt dicht an dicht vorüberschoben.
Der Wind fegte ungehindert vom Meer über das Land, schneidend und so kalt, dass man sich vor ihm verstecken wollte.
Auch das Licht war anders als in der Lagune, es gab keinen Hauch von flimmernder Helligkeit, keine Silberreflexe im Wasser und keinen Widerschein pastellfarben getönter Fassaden. Jetzt im Herbst waren die Hügel nur spärlich begrünt, und die Landschaft war nicht nur unbelebt, sondern auch zumeist von kargem Graubraun, kaum aufgelockert durch die Vegetation.
Sanchia fühlte sich wie ein kleines Kind, das jemand aus dem sicheren Hort eines gewohnten Zimmers geholt und mitten in fremder Einöde ausgesetzt hatte. Und wie ein Kind, das sich allein in ungewohnter Umgebung wiederfindet, suchte sie Kraft in einem Gebet. Sie wollte die Heilige Jungfrau anrufen und sie um Beistand bitten, doch unter dem Brausen des Windes verloren sich die Worte in ihrem Inneren.
Sie umklammerte ihren Anhänger, während die Finger ihrer anderen Hand über die raue Borke des Baumes fuhren.
Vielleicht kann ich eines Tages weinen, dachte sie. Wenn ich weinen kann, werden meine Tränen die Angst und das Leid von meiner Seele wegspülen. Ganz sicher wird alles wieder gut, wenn ich erst weinen kann!
Ihr Blick wurde von lauten Rufen zum Strand gelenkt. Dort waren Schiffe aufgetaucht, zwei mit abgerissenen Segeln bestückte Galeeren zweifelhafter Herkunft, die Decks mit Lafetten bestückt, auf denen ölig glänzende Kanonenläufe ruhten.
Giulia und Eleonora schrien auf, als eines der Schiffe beidrehte, die Geschütze in ihre Richtung gewandt. Sanchia hielt den Atem an, als sie sah, wie zwei der zerlumpten Matrosen sich an der Zündvorrichtung zu schaffen machten. Nur einen Herzschlag darauf zerbarst die Welt in einem Donnerschlag, begleitet von einem Splitterregen zerberstenden Holzes und einem Schauer von Blut.
Dort, wo er lag, konnte er die Schreie seines Großvaters hören. Manchmal meinte er, dass sie einem bestimmten Muster folgten. Sehr oft schrie der Alte nicht, vielleicht einmal in der Nacht und dann noch zwei oder drei Mal tagsüber. Zuweilen wurden die Schreie lauter, und Lorenzo hatte dabei den Eindruck, dass vielleicht jemand bei seinem Großvater in der Kammer war, doch Rufio hatte seine fragenden Blicke und Gesten nur mit einem Achselzucken quittiert. Er erklärte Lorenzo, dass der alte Mann gut gepflegt werde. Er wolle nicht mehr viel essen und sei vom Liegen wund, aber das sei trotz aller Mühe nicht zu ändern. Manchmal, so meinte er, schrie er eben.
Nach einer Woche war Lorenzo so weit genesen, dass er wieder aufstehen und die ersten vorsichtigen Schritte wagen konnte. Sobald er sich sicherer auf den Beinen fühlte, ging er hinauf zu seinem Großvater und fand ihn in einer Besorgnis erregenden Verfassung vor. Hemd und Bettzeug waren sauber, aber der Alte war bis auf die Knochen abgemagert und starrte ihn aus trüben Augen an. Als Lorenzo ihn anlächelte und vorsichtig seine Hand nahm, schien ein Ausdruck von Erkennen in die Züge seines Großvaters zu treten, doch vielleicht war es auch eine
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