Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
du, was ich meine? Wir sind hier, du und ich. Man hat uns entsetzliche Dinge angetan. Aber wir haben es überlebt. Wir beide, und die Sonne bescheint uns.«
Sanchia schaute unverwandt zum Horizont. Die Trennungslinie zwischen Meer und Himmel färbte sich zuerst silbrig, dann violett und schließlich rot, bevor das orangefarbene Glühen der aufgehenden Sonne das Meer in flüssiges Gold verwandelte.
Es wurde schlagartig heller, und sie konnten mehr von ihrer Umgebung erkennen. Der zerklüftete Felsstrand stieg landeinwärts leicht an und war weiter oben auf der Anhöhe von knorrigen Pinien bewachsen.
»Ein Berg!«, rief Eleonora aus. »Und sieh nur, die vielen Bäume! Wir sind auf der Terraferma!«
Wenig später kam Girolamo zurück, der augenscheinlich einen Teil des Geldes aus der Börse bereits sinnvoll angelegt hatte. Er zog einen Packesel hinter sich her, der mit Körben beladen war, aus denen Girolamo so lebensnotwendige Dinge zu Tage förderte wie frische Kleidung, Decken, Schuhe und Nahrungsvorräte. Außerdem hatte er einen Kamm, Seife und Leinentücher aufgetrieben.
Mit einigen Schwierigkeiten machte er den Frauen begreiflich, wo sie gelandet waren: außerhalb der Lagune und südlich von Chioggia. Den Esel und den Inhalt der Körbe hatte er Marktleuten abgekauft, die mit ihren Waren auf dem Weg in den Ort waren.
Er zog sich hinter die Anhöhe zurück, damit die Frauen sich ungestört waschen und anziehen konnten.
Giulia, inzwischen ebenfalls aufgewacht, war zunächst glücklich über das Ende der Schmerzen, musste aber rasch zur Kenntnis nehmen, was es bedeutete, ohne Hände solche existenziellen Verrichtungen wie Nahrungsaufnahme, Körperpflege oder gar seine Notdurft erledigen zu müssen. Murrend ließ sie sich von Sanchia bei allem helfen, und gerade als Sanchia ihr verärgert anheimstellen wollte, sich allein den Hintern abzuputzen und sich die von Salzwasser verkrusteten Haarzotteln selbst zu kämmen, versicherte Giulia ihr eilig und mit ausgesuchter Höflichkeit, wie dankbar sie ihr für ihre Dienste sei. Sie nahm sogar klaglos hin, dass sie ihre ehemals kostbaren, aber jetzt rettungslos zerlöcherten und zerrissenen Gewänder gegen den steifleinenen Bauernkittel eintauschen musste, den Sanchia ihr überstreifte. Die Holzpantinen verschmähte sie jedoch und behielt stattdessen lieber ihre immer noch feuchten Lederstiefel an.
Sie verschlang hungrig jeden Bissen, den Sanchia ihr bei dem anschließenden Frühstück vor den Mund hielt. Girolamo hatte Käse, Brot, ein paar Äpfel und einen Schlauch mit verdünntem Wein mitgebracht, alles eher haltbar als schmackhaft. Der Käse war ebenso wie das Brot steinhart, und der Wein und die Äpfel schmeckten so sauer, dass es ihnen die Tränen in die Augen trieb. Eleonora, die daran gewöhnt war, sonst schon in der Frühe süßen Kuchen, warmes Kompott und frisch gebackenes Weißbrot zu sich zu nehmen, verzog leidend das Gesicht. Doch wie alle anderen ließ sie nicht einen Krümel von ihrer Portion übrig.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie nach der kargen Mahlzeit. »Fahren wir zurück?«
Sie zuckte zusammen, als sie die ernsten Blicke der anderen sah. Ihr Gesicht wurde lang. »Ihr meint … nein?« Als sie begriff, was das bedeutete, trat Entsetzen in ihre Miene. »Ich kann Pasquale nicht allein im Gefängnis lassen!«
»Ach ja? Willst du dich dort zu ihm setzen?« Giulia hatte offensichtlich ihre gewohnte Bosheit zurückgewonnen.
»Sei still!«, rief Eleonora aus. »Was weißt du schon von der Liebe, die zwei Menschen verbindet!«
»Genug«, gab Giulia zurück. »Ich habe einen kleinen Sohn! Ich liebe Marco mehr als mein Leben, so wie er mich. Aber für alle Dinge im Leben gibt es eine richtige und eine falsche Zeit. Für eine Rückkehr ist dies ganz zweifellos die falsche.«
»Du meinst, wir müssen nur auf die richtige warten?«, höhnte Eleonora. »Und wer bestimmt, wann sie gekommen ist? Du vielleicht?«
Girolamo, der sein Morgenmahl in einiger Entfernung auf einer Sanddüne verzehrt hatte, ließ ein Grunzen hören und vollführte einige Gesten.
»Was meint er?«, wollte Eleonora von Sanchia wissen.
»Er sagt, wir sollen uns allmählich darüber Gedanken machen, wohin wir reisen wollen«, behauptete Giulia.
Eleonora musterte sie. »Du lügst. In so kurzer Zeit kann man seine Sprache nicht lernen. Sanchia?«
Sanchia blickte mit abgewandtem Gesicht aufs Meer hinaus. »Denkt, was ihr wollt. Mir ist es gleich.«
Sie ließ ihre Gedanken
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