Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
neuen Kanonen ausprobiert.« Sagredos Stimme wurde tonlos. »Du kennst ja die Türken.«
Lorenzo gab sich keine Mühe, die Stimme zu dämpfen. Seine Frage klang, als käme sie durch ein verrostetes Ofenrohr, und jedes Wort tat so weh, als ob das Schwert noch in seinem Hals steckte. »Sind sie tot?«
»Davon müssen wir wohl ausgehen. Die Männer haben die halbe Dorfbevölkerung niedergemetzelt und ins Meer geworfen. Die meisten sind von der Flut weggeschwemmt worden, man wird höchstens noch das von ihnen finden, was die Fische nicht gefressen haben. Von dem Boot waren nur noch blutbesudelte Trümmer übrig.«
Lorenzo tat einen tiefen Atemzug – oder besser: Er versuchte es. Sein Hals brannte, als hätte er ätzende Säure geschluckt. Er hatte schon mehr als einen Küstenstützpunkt gesehen, über den die Türken hereingebrochen waren. Seit Jahrzehnten machten sie die Küstengebiete des venezianischen Herrschaftsgebiet unsicher. Wo sie konnten, brachten sie Schiffe auf, und misslang ihnen das, fielen sie nicht selten marodierend in die Dörfer ein und hinterließen eine Schneise der Verwüstung. Ihr Hass war trotz diverser Friedensverträge seit den blutigen Zeiten der Kreuzfahrer ungebrochen, und so wurde bei diesen Überfällen zwischen den offiziellen Kriegen jeder abgeschlachtet, der ihren Weg kreuzte, egal ob Frauen oder Männer, Kinder oder Greise.
»Schöne Frauen nehmen sie oft als Sklaven mit. Sie könnten noch leben.« Lorenzos Flüstern war kaum verständlich. Jedes Wort hörte sich an wie das Zischen eines undichten Blasebalgs.
»Nein.« Sagredo schüttelte den Kopf. »Das, was sie da hätten, wäre kein Leben.«
Lorenzo wusste, was Sagredo meinte. Doch er wollte es nicht hören. Nicht in diesem Fall.
»Wären sie entführt worden, hätte es einer der Dörfler mitbekommen«, sagte Sagredo. »Einige von ihnen haben die Schiffe wieder abfahren sehen. Die Frauen sind Opfer des Überfalls geworden. Finde dich damit ab, mein Junge.«
Niemals, dachte Lorenzo. Nicht, bevor er sie nicht mit eigenen Augen tot sah.
Sie lebt, hämmerte es in seinem Kopf. Sie musste leben! Sonst wäre alles umsonst gewesen! Alles. Auch sein eigenes Leben. Wie betäubt starrte er auf seine Hände.
Ein Geräusch an der Tür ließ ihn aufblicken. Sein Vater stand dort und musterte den Besuch mit besorgter Miene. »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Giovanni Caloprini.
»Nur schlechte Nachrichten.« Sagredo fasste knapp zusammen, was er Lorenzo bereits berichtet hatte.
Giovanni Caloprini trat an das Bett seines Sohnes und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich kümmere mich darum«, sagte er beschwörend. »Du hast jedes Recht, Genugtuung zu erfahren! In der Situation ging es nicht anders, aber ich verstehe, wie sehr es dich kränken muss!«
Lorenzo schaute verständnislos zu ihm hoch. Erst nach einigen Momenten begriff er, dass sein Vater nicht den Verlust von Sanchia beklagenswert fand, sondern die Tatsache, dass Enrico Grimani aus dem Kerker entlassen worden war.
»Es wird Zeit, dass du wieder auf die Beine kommst«, sagte Giovanni, während er eines der Messer aus der Sammlung seines Sohnes nahm und geistesabwesend mit der Daumenkuppe über die scharfe Klinge fuhr. »Der Krieg droht Ausmaße anzunehmen, die keiner vorhersehen konnte. Dieser unfähige Piero de’ Medici ist tatsächlich zu Karl gegangen und hat sich ihm vor die Füße geworfen. Und die Toskana als Dreingabe gleich dazu. Er hat ihm buchstäblich alles gegeben, diesem geltungssüchtigen französischen Zwerg! Und das ist noch nicht genug: In Florenz wird die Stimmung weiterhin Tag für Tag von Savonarola aufgeheizt, und der Rat folgt den Aufrufen dieses wahnsinnigen Bußpredigers auch noch! Das Volk muss fasten, die Gottesdienste nehmen in fragwürdigem Umfang zu, die Stadt ist im Grunde führungslos – und die Franzosen stehen bereits vor ihren Toren!«
»Ich reise nächste Woche«, sagte Sagredo mit einem Seitenblick auf Lorenzo.
Aus dem Obergeschoss waren wieder schwache Schreie zu hören. Von irgendwoher tönte die Stimme seines betrunkenen Onkels, unterbrochen von einer Schimpfkanonade, die von Caterina stammte. Giovannis Miene gefror zu einer unverbindlichen Maske, aber in seinen Augen loderte die Wut.
Lorenzo hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Oder laut geschrien, um die Geräusche des Hauses zu übertönen. Hier zu liegen, hilflos und zur Untätigkeit verdammt, erschien ihm grotesk. Der Drang, zu handeln – egal, auf welche
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