Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Weise – wurde mit jeder Minute machtvoller.
Lorenzo erwiderte stumm Sagredos Blick.
Er wog seine Schwäche gegen sein Bedürfnis ab, der Situation schnellstmöglich zu entfliehen. Lange brauchte er nicht dazu, im Grunde war es keine Frage, was zu tun war.
Wenn er täglich aufstand und seine Beine wieder ans Gehen gewöhnte, würde er auch rasch wieder auf ein Boot steigen können. Den Landweg würde er wie üblich zu Pferde zurücklegen müssen, doch bis dahin waren es noch einige Tage, in denen er sich weiter erholen und zu Kräften kommen konnte. Natürlich würde er sich in der Gegend um Chioggia umhören, bevor sie nach Florenz reisten. Die Kundschafter, die auf Sagredos Geheiß die Küste der Terraferma abgesucht hatten, konnten unmöglich jeden Menschen befragt haben, der vielleicht etwas beobachtet hatte.
Er schwor sich, sie zu finden.
Sie wand sich vor Rastlosigkeit, weil sie es nicht ertragen konnte, so lange zu warten. Alles in ihr schrie danach, endlich in die Kammer im Obergeschoss zu gehen und die Truhe zu öffnen. Ihr war übel, einesteils vor Aufregung, andererseits vor Wut. Sie wusste nicht, ob sie froh oder niedergeschlagen sein sollte, weil die blonde Hure endlich tot war. Sie wünschte sich inbrünstig, die Türken hätten sie verschleppt, ihr den Kopf geschoren und sie so lange vergewaltigt, bis sie dem Wahnsinn anheimfiel.
Doch dann dachte sie an das schöne lange Haar und konnte kaum die Tränen zurückhalten, und das, obwohl noch Besuch im Haus war und auch sonst der reinste Auftrieb in der Ca’ Caloprini herrschte. Ruhelos streifte sie durch die Räume, innerlich bereits in der Verwandlung begriffen, die sie später, sobald hier wieder Ruhe eingekehrt war, endlich vollziehen konnte.
Vor dem großen runden Fenster an der Stirnseite des Portego blieb sie stehen. Das Glas der Scheibe schimmerte wie von einem magischen Finger berührt, ein Licht, das aus einer anderen Welt zu stammen schien. Vielleicht hatte der Glasmacher es gesandt, mit der Kraft seines Genies, das den Tod seines Leibes überdauert hatte. Über die Jahre schien es an Stärke gewonnen zu haben, sie wusste es, denn manchmal sprach das Fenster zu ihr, im Zwielicht zwischen Morgendämmerung und Sonnenaufgang, und dann spürte sie, dass er noch da war. Er und seine Tochter, die nicht seine Tochter war.
Einen Moment lang überlegte sie, Rufio bereits jetzt in seiner Kammer aufzusuchen, doch sie wusste, dass ihm das nicht gefallen würde. Er würde sie höflich, aber bestimmt abweisen, und das konnte sie am allerwenigsten ertragen. Nach dem Tod Giorgio Grimanis war er ohnehin nicht mehr wie sonst. Er verdächtigte sie der Tat und hatte es klar ausgesprochen. Sie hatte alles abgestritten, aber er musste die Angst in ihren Augen gelesen haben. Sie wusste nicht, was er dachte. Sein schönes Gesicht wurde zu einer ausdruckslosen schwarzen Fläche, wenn er es wollte. Er vermochte Gefühle ebenso gut zu verstecken wie zu zeigen, und nie konnte man ahnen, ob es wirklich Empfindungen waren, die aus seiner Seele kamen oder aber seinem schauspielerischen Talent entsprangen. Sie selbst konnte alle täuschen – bis auf den Alten und Francesco natürlich –, aber Rufio war ihr in diesen Dingen weit überlegen.
Auf der Treppe zu den Wirtschaftsräumen blieb sie stehen und lauschte. Das Rumoren der Köchin am Herd wurde übertönt von Abschiedsworten, die am Wassertor gesprochen wurden. Sagredo war gegangen, Rufio hatte ihn hinunter in den Andron begleitet.
Sie hielt es nicht länger aus und eilte über die Stiege nach oben, wo sie die Tür zu der rettenden Kammer aufriss – und entsetzt stehen blieb.
Francesco saß auf dem Bett, den Kopf in beide Hände gestützt. Er blickte auf und nickte. »Ich wusste es. Du hattest wieder diesen Ausdruck in den Augen. Du brauchst es, nicht wahr? So sehr, dass du jeden töten würdest, der sich dir in den Weg stellt. Wenn du nicht regelmäßig deine Hurengewänder anlegen kannst, bist du kein vollständiger Mensch.« Seine Stimme klang verwaschen, er musste sich bereits etliche Gläser Wein einverleibt haben. Er schüttelte den Kopf. »Gott, wie mich manchmal vor dir ekelt!«
Sie atmete auf, als sie sah, dass die Truhe geschlossen war. Der Schlüssel ruhte wie immer in ihrem Schuh, eine kleine schmerzende Sicherheit unter ihrer rechten Ferse. Francesco musterte sie, aber sein Gesicht offenbarte nichts von seinen Gefühlen. »Wie fühlt man sich nach einer erfolgreichen Denunziation?«
»Ich
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