Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
oberhalb vom Fluss lag. Sanchia sagte sich oft, dass sie es schlechter hätten treffen können, denn sie hatte hier in Florenz schon Elendslöcher gesehen, in denen es vor Ratten und anderem Ungeziefer nur so wimmelte. Doch es gab nichts daran zu deuten, dass das schmalbrüstige, kläglich übervölkerte Häuschen nicht annähernd mit San Lorenzo zu vergleichen war. Im Kloster hatte es ihnen kaum je an Luxus gemangelt. Sie hatten mindestens zweimal in der Woche heißes Wasser zum Baden bekommen und jeden Tag so viel zum Essen, wie sie nur haben wollten. Sie hatten auf weichen Matratzen geschlafen und konnten täglich frische Gewänder anziehen, wenn sie Wert darauf legten. Converse hatten ihre Kleider gewaschen und die Gemeinschaftsräume geputzt, der Stallknecht hatte die Tiere versorgt und die Köchin mitsamt ihrer Mägde sich um die Mahlzeiten gekümmert.
Hier mussten sie nicht nur jeden Handgriff für ihr leibliches Wohl selbst tun, sondern auch zu viert in einer Kammer hausen, in die kaum mehr passte als ihre Strohmatratzen. Der Raum lag zudem genau neben dem Ziegenstall, und der Gestank, der durch alle Ritzen ins Haus drang, überlagerte an manchen Tagen sogar den durchdringenden Geruch nach Kohl, der regelmäßig um die Mittagszeit das Haus erfüllte.
Der Abort befand sich glücklicherweise außerhalb des Hauses, in einem von Efeu überwucherten Hinterhof, doch dafür wurde er von allen Bewohnern benutzt, und das waren – mitsamt Kindern – insgesamt mehr als ein Dutzend Menschen. Giulia hatte kürzlich von irgendwoher einen hölzernen Wandschirm und einen Nachtstuhl besorgt, von da an war zumindest dieser Aspekt ihrer Unterbringung um einiges erträglicher.
Girolamos Schwester Federica hatte sie, ohne zu zögern, aufgenommen und drei ihrer vier Töchter in die elterliche Schlafkammer umquartiert, um Platz für die Gäste zu schaffen. Sanchia, Eleonora und Giulia teilten sich eine Kammer mit dem ältesten Mädchen, während Girolamo eine Matratze im Schlafraum seiner drei halbwüchsigen Neffen zugewiesen worden war, wo außer ihnen noch der neunzigjährige Großvater des Hausherrn nächtigte.
Als sie das Haus betraten, wuselten sofort zwei vorwitzige junge Katzen um ihre Füße herum. Die drolligen Pelzbündel stammten aus einem Wurf von acht Tieren, die alle von einem unermüdlichen Spieltrieb besessen waren und ständig durch die Räume tollten, wenn sie nicht gerade auf einer der Matratzen lagen und schliefen. Federica blickte ihnen reumütig lächelnd entgegen. »Ich weiß, ich sollte sie in den Fluss werfen, aber wer bringt das schon fertig, solange sie so klein sind? Ich sage mir, dass sie von allein verschwinden, wenn sie ausgewachsen sind.«
»Davon träumst du wohl«, sagte ihr Mann trocken. Er saß an der Wand neben dem Kamin, eine Decke über den Beinen. »Sie tun den Teufel, zu verschwinden. Warum denn auch, wo es hier bei uns so warm und gemütlich ist. Und immer was zum Futtern vom Tisch runterfällt. Ach ja, wo wir schon beim Thema sind – meinst du, dass dieses köstliche Stück Fleisch bald gar ist? Lass mich doch mal versuchen!«
»Finger weg! Du wartest, bis es fertig ist, sonst ist nachher nichts mehr da!« Federica schlug ihrem Mann spielerisch auf die Hand, als er nach dem Kochlöffel griff. Sie konnte nicht viel älter als Girolamo sein, sah aber aus, als wäre sie seine Mutter. Ihre Figur war von den zahlreichen Geburten aus der Form geraten, und ihre Finger waren von frühzeitiger Gicht so knotig wie die einer alten Frau. Sie hatte bereits mindestens die Hälfte ihrer Zähne verloren, und ihr Haar war so grau wie das von Deodata, aber die Energie, mit der sie von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht ihren häuslichen Pflichten nachging, schien unerschöpflich zu sein.
Sie stand am Kochkamin und bereitete das Mittagsmahl zu. Aus dem Topf, der an einer Kette über dem offenen Feuer hing, stieg Dampf. Es roch nach Kohl, Zwiebeln und dem Lammfleisch, das Giulia am Vortag beschafft hatte. Sie brachte einiges mit aus der Stadt, seit sie ihre Arme wieder problemlos gebrauchen konnte, und niemand verstieg sich auf den Gedanken, sie zu fragen, womit sie all ihre Einkäufe bezahlte. Zucker, Wolle, ein Korb mit Äpfeln, eine Rolle weißes Leinen oder eben ein ordentliches Stück Fleisch – es gab eine Menge nützlicher Dinge, die ein großer Haushalt wie der von Federica benötigte. Die Familie musste von dem leben, was die beiden ältesten Söhne, vierzehn und fünfzehn Jahre alt,
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