Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
als Tagelöhner verdienten. Die älteste Tochter steuerte aus ihrer Anstellung als Magd ebenfalls eine Kleinigkeit bei, doch insgesamt reichte das Einkommen kaum für die Nahrung.
Girolamos Schwager war vor zehn Jahren unter die Hufe eines Pferdes geraten und konnte seitdem nicht mehr laufen. Vorher hatte er als Schmied nicht übel verdient, doch ein Mann ohne brauchbare Beine konnte keine Pferde mehr beschlagen.
»Im Grunde war es ein Segen«, hatte er einmal mit breitem Grinsen erklärt. »Sonst hätte ich meiner Frau noch zehn Kinder mehr gemacht! Federica und ich, wir hatten jedes Jahr eines, müsst Ihr wissen.«
Sanchia hatte sich von seiner Heiterkeit nicht täuschen lassen. Ihm lag sichtlich daran, nicht als verbitterter Krüppel zu gelten, folglich gab er sich zuweilen gewollt launig. Davon abgesehen schien er tatsächlich nicht allzu unglücklich zu sein und machte das Beste aus seiner Situation. Er saß den ganzen Tag in der großen Küche, die den Seinen zugleich als Wohnraum diente, und beobachtete in schläfriger Gelöstheit das Gewimmel von Kindern, Katzen und Gästen. Hin und wieder verirrte sich auch ein gackerndes Huhn aus dem Hof in die Wärme des Hauses, oder es schaute eine Nachbarin vorbei, um mit Federica ein Schwätzchen zu halten und die interessanten Gäste aus Venedig zu bestaunen.
»Girolamo, willst du wohl dieses tropfende Wams ausziehen, du machst mir ja Pfützen überall!«
Der durchnässte Riese bedachte seine Schwester mit einem gutmütigen Zähneblecken und ging in die Schlafkammer seiner Neffen und des Großvaters, um die Kleidung zu wechseln.
Sanchia folgte seinem Beispiel. Sie schlüpfte aus ihrem triefenden Umhang und hängte ihn an einen Haken in die Nähe des Kamins. Hier würde er schneller trocknen als in der Kammer, die nie ausreichend warm wurde, auch wenn die Kohlenpfanne den ganzen Tag brannte.
Als sie in die Schlafkammer im hinteren Teil des Hauses kam, beugte sich Eleonora gerade über das qualmende Feuer und versuchte, durch Fächeln mit einem Tuch der Glut mehr Hitze zu entlocken.
»Es ist so kalt hier drin«, klagte sie. »Wie soll das erst nächsten und übernächsten Monat werden? Das überleben wir nie! Uns werden die Zehen und Finger abfrieren, und unsere Nasen werden so rot und ädrig wie die von dem Methusalem nebenan.«
»Vielleicht wird es ein milder Winter.«
»Er kann noch so mild sein. Es ist ja jetzt schon lausig kalt, und wir haben erst November.«
»Wir werden ihn nehmen müssen, wie er kommt.«
Eleonora verzog das Gesicht bei dieser fatalistischen Antwort. Sie gab es auf, das Feuer anzufachen, und blickte auf. »Wie war es denn bei der Stadtverwaltung?«
»Es hat alles geklappt. Ich habe die Erlaubnis bekommen.« Sanchia verneigte sich in gespielter Würde. »Ihr seht eine ehrenwerte Hebamme und Kräuterheilerin vor Euch, Monna Toderini.«
»Was musstest du machen bei der Prüfung? Wurdest du richtig ausgefragt?«
Sanchia zuckte die Achseln. Ein Medicus und eine Hebamme hatten ihr und zwei anderen jungen Frauen ein paar Fragen gestellt. Sie hatte ein Stück aus einem lateinischen Lehrbuch vorlesen müssen. Das Ganze hatte kaum eine halbe Stunde gedauert, und die meiste Zeit davon hatte sie mit dem Medicus über Avicenna geredet. Am Ende hatte er, sichtlich beeindruckt von ihren Kenntnissen, keine Vorbehalte gehabt, die amtliche Erlaubnis für die Arbeit als Geburtshelferin und Krankenpflegerin zu befürworten, auch wenn sie nach seinem Dafürhalten noch sprachliche Defizite auszugleichen hatte. Ihr venezianischer Dialekt klang in seinen Ohren fremdländisch, sodass sie am Ende ganz zwanglos beide ins Lateinische verfallen waren.
»Der Medicus war ein netter Bursche. In seiner Art hat er mich an Simon erinnert, auch wenn er kein Jude war. Zum Abschied wünschte er mir viel Erfolg.«
»Heißt das, du bekommst jetzt richtiges Geld dafür?«
»Sagen wir, ich kann welches nehmen, ohne dass mich jemand bei der Obrigkeit wegen Scharlatanerie anklagen kann. Aber es wird nicht reichen, um uns woanders einzumieten.«
Eleonora schlug sich mit der Faust in die Hand. »Ich würde so gern auch arbeiten! Himmel, wie sehr wünschte ich mir, eine Sache zu beherrschen, die Geld einbringt! Dann könnten wir aus diesem Loch raus!«
»Du bist eine begnadete Köchin, und das weißt du genau. Du kannst eine Anstellung in einem vornehmen Haushalt finden. Es gibt Leute, die würden eine Menge Geld ausgeben, um solche köstlichen Mahlzeiten zu essen, wie du
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