Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
außerhalb der Klostermauern für eine Frau ein steiniger Weg war, es sei denn, sie gehörte dem Adel an oder dem reichen Bürgertum, etwa einer gut situierten Handwerkerfamilie. Nur ein Bruchteil der venezianischen Frauen hatte allerdings dieses Glück. Der größte Teil der Bevölkerung zählte zur Arbeiterschicht und lebte trotz unermüdlicher Plackerei in Armut. Die Frauen wechselten in einem ewigen Reigen zwischen Hunger, Schwangerschaft und Tod, und die Gefahr nahm bei jeder Geburt zu. Drei von fünf Kindern starben in den ersten beiden Jahren, sei es bei der Geburt oder an Krankheit und Mangel, jede vierte Mutter ließ im Kindbett ihr Leben.
Seit ihrer Rückkehr dachte Sanchia manchmal nicht ohne Selbstironie, dass Savonarola in manchen Punkten Recht gehabt hatte. Zumindest hatte er eine Vision gehabt und sie gelebt, die Vision einer gerechten Welt, in der den Armen gegeben wurde und nicht genommen.
Es gab Augenblicke, da wäre sie für ihr Leben gern bei einer der vielen Prozessionen vor eine der verschwenderisch geschmückten und teuer gekleideten adligen Damen hingetreten und hätte sie angeherrscht, ob sie wüsste, wie lange ein Arbeiter für ein Dutzend Zitronen schuften musste. Zitronen, mit denen die Dame nichts weiter tat, als sie sich im Laufe einer Woche ins Haar zu schmieren, während damit ganze Straßen voller Kleinkinder vor geschwürigen Ausschlägen hätten bewahrt werden können.
Sanchia verscheuchte die düsteren Gedanken. Sie ignorierte Agostinos Gebrüll, Herkules’ Gebell und Immaculatas Gezeter und eilte aus der dampfenden Waschküche. Sie holte ihren Beutel, prüfte rasch den Sitz ihrer Haube und machte sich mit der Frau des verletzten Arbeiters auf den Weg ins Arsenal. Der Eingang war, wie alle Tore der von hohen Mauern umgebenen Anlage, streng bewacht, doch die Torhüter kannten die Frau und vor allem Sanchia und ließen sie sofort passieren. Anscheinend hatte sich der Unfall bereits bis zu ihnen herumgesprochen.
»Hört zu«, sagte sie leise zu der Frau, während sie an den lang gestreckten Hallen der Corderia vorbeieilten. »Ich kann ihm selbst nichts geben, schon gar nicht, wenn der Arzt daneben steht.«
»Warum nicht?«, fragte die Frau verständnislos.
»Weil es nicht zu meinen erlaubten Aufgaben gehört.« Als Hebamme und Pflegerin der Alten und Siechen hatte sie jederzeit Zutritt in die Marinarezza und zu den Wohnblocks der Arbeiter, auch zu den Produktionsstätten. In der venezianischen Reederei arbeiteten fast ebenso viele Frauen und Kinder wie Männer. Ganze Großfamilien waren in den Docks und Hallen beschäftigt, und nicht selten wurde eine Frau mitten in der Arbeit von Wehen oder Blutungen überrascht.
Vor den Augen eines offiziell für die Wundbehandlung zugelassenen Medicus in dessen Pflichtenkreis einzudringen würde jedoch mit Sicherheit Ärger nach sich ziehen. Die meisten der Ärzte waren eifersüchtig auf die Wahrung ihres Standes bedacht und betrachteten die Hebammen mit tief sitzender Abneigung. Die Knochen- und Wundbehandlung war Sache der Medici und Chirurgi, allenfalls noch der unstudierten Barbiere. Die Einmischung durch eine Frau, erst recht eine junge, wurde als Gipfel der Unbotmäßigkeit und Scharlatanerie erachtet. Als Gehilfin eines zugelassenen Arztes aus dem Collegio dei Medici fisici aufzutreten war eine Sache, jedoch selbstständig ärztliche Aufgaben zu erfüllen eine ganz andere.
Sie war bereits einmal vor den zuständigen Provveditore zitiert worden, der ihr nach einem ähnlichen Zwischenfall klargemacht hatte, dass sie sich an die abgegrenzten Wirkungsfelder zu halten hatte.
»Wenn Ihr weiter hier Kinder entbinden und den Menschen helfen wollt, solltet Ihr die Vorschriften beachten«, hatte er in amtlichem Tonfall erklärt. Hinter der Aussage stand jedoch eine eindeutige Botschaft. Versuch es erst gar nicht , hatten seine Augen ihr signalisiert. Und dabei war es nur um eine gebrochene Hand gegangen, die sie geschient hatte.
In den umliegenden Straßen Castellos und in der Marinarezza scherten sich die kranken Menschen nicht viel um Vorschriften aus ärztlichen Berufsordnungen, aber in den unter ständiger Kontrolle stehenden Hallen musste Sanchia sich wohl oder übel an die Vorschriften halten. Sie würde es der Frau überlassen, den Schlaftrunk zu verabreichen, es sei denn …
Unwillkürlich reckte sie den Kopf, als sie die größte Halle betrat, doch sie sah die hoch gewachsene Gestalt nirgends. Dafür waren zu viele Menschen hier,
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