Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
es mussten hunderte sein. Die Werft besaß riesige Ausmaße, überall waren Schiffsrümpfe in den unterschiedlichsten Stadien der Fertigung zu sehen. Entfernungen und Dimensionen schienen sich hier ins Unendliche zu erweitern, und Sanchia fühlte sich winzig wie ein Insekt neben dem Schuh eines Riesen, obwohl sie nicht zum ersten Mal hier war. Der Lärm war ohrenbetäubend. Hämmern, Sägen, das Poltern der Karren und das Knarren der Flaschenzüge erfüllten den weiten Raum, begleitet von den lautstarken Ausrufen und dem Kommandogebrüll der Vorarbeiter. Träger schleppten Lasten vorbei, luden sie ab und nahmen anderswo neue auf. Es war ein einziges Kommen und Gehen und ein scheinbar planloses Durcheinander.
Dies war nur eine Halle von etlichen anderen, in denen jeweils unterschiedliche Schiffsteile hergestellt wurden, bis sie schließlich zu einem Ganzen zusammengefügt werden konnten. Während in der einen Planken für Rümpfe und Decks geschnitten sowie Ruder geschnitzt wurden, wurden andernorts Segel genäht, Pech zum Kalfatern gekocht, Geschütze, Beschläge, Anker und Ketten geschmiedet, oder, wie in der benachbarten Corderia, Tauwerk in Form von Wanten, Brassen, Schoten, Leinen, Fallreeps und Tampen gefertigt. Tausende von Menschen, die mit unterschiedlichen Gewerken beschäftigt waren, arbeiteten einander unermüdlich zu und brachten auf diese Weise im Schnitt pro Tag eine fertige Galeere hervor, die dann auf Gleitbahnen vom Stapel lief – eine Wertschöpfung ungeheuren Ausmaßes und zugleich Grundlage des Reichtums der Serenissima: die gewaltigste Flotte der bekannten Welt.
Sanchia schwindelte es immer wieder, wenn sie die gigantischen Hallen betrat, in denen die Menschen wie Ameisen um die einzelnen Arbeitsstationen wimmelten.
An der gegenüberliegenden Hallenseite, dort, wo der Raum sich zur Wasserseite hin öffnete, herrschte noch lauteres Geschrei als im übrigen Hallenbereich. Die Frau eilte auf den Unruheherd zu. Schluchzend und zusammenhanglos vor sich hinmurmelnd, schubste sie die Arsenalotti , die ihr im Weg standen, kurzerhand beiseite. Andere wichen ihr aus, verlegenes Mitgefühl im Blick. Vorarbeiter bellten scharfe Kommandos und hielten die Männer zur Arbeit an, damit niemand auf die Idee kam, seine Zeit mit nutzlosem Gaffen zu vertun.
An der Unglücksstelle hielten sich folglich nur wenige Männer auf, und zwar ausschließlich solche, die damit beschäftigt waren, das havarierte Schiff von der Stelle zu manövrieren. Und es waren zwei Medici vor Ort, die neben einem der Flaschenzüge standen und miteinander debattierten. Sanchia atmete auf, als sie in einem von ihnen Fausto Sarpi erkannte, einen jungen Römer, der in Paris und Padua Anatomie studiert hatte und erst seit kurzem in Venedig arbeitete. Sie hatte sich schon einige Male mit ihm unterhalten und ihn als angenehmen Zeitgenossen kennen gelernt. Da, wo seine Kollegen ihr mit Herablassung oder Argwohn begegneten, ließ er nur Bewunderung und Höflichkeit erkennen und war voller Wissbegier. Er war sich nicht zu fein, ihr bei jeder Gelegenheit Fragen zur Geburtshilfe zu stellen. Im Übrigen war er im Begriff, ein wirklich guter Arzt zu werden, zumindest in der Theorie. Simon hatte bereits von ihm gehört und sogar ein Traktat von ihm gelesen.
»Ah, Monna Sanchia!«, rief Sarpi aus. »Ihr kommt gerade rechtzeitig, um Eure Meinung zu sagen! Dottore Battario und ich diskutieren, ob es ratsam ist, das Bein in situ abzusägen.«
Der andere Arzt, ein betagtes, knittriges Männchen, war weniger angetan von ihrem Anblick, aber immerhin höflich genug, sich kurz vor ihr zu verneigen. Er war so kurzsichtig, dass er sie vermutlich nicht erkannt hätte, hätte sein jüngerer Kollege nicht ihre Ankunft eben angekündigt. Bei seinen Krankenbesuchen kam er stets in Begleitung eines ebenso verhutzelten Weibleins, das ihm die Augen ersetzte und die Behandlungen für ihn ausführte, so gut es ihr mit ihren gichtigen Händen eben möglich war. Ob sie Battarios Frau oder seine Magd war, wusste kein Mensch. Sie gehorchte seinen weitschweifigen Anweisungen ohnehin nicht, sondern tat, was sie selbst für richtig hielt. Sanchia hatte sie einmal dabei beobachtet und wusste seither, wer der Arzt in diesem seltsamen Gespann war.
Sanchia kniete neben dem Verunglückten nieder, der unter dem Decksaufbau eingeklemmt war. Behutsam legte sie die Finger an seinen Hals. Als seine Frau vorhin von hier aufgebrochen war, mochte der Arme noch laut geschrien haben vor
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