Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
ihren Arm erst los, als sie die bewaffneten Wächter passiert und den Aufgang neben dem Hauptwassertor des Arsenals hinuntergestiegen waren.
Statt wieder umzukehren, blieb er an ihrer Seite. »Gestattet, dass ich Euch nach Hause bringe.«
Sanchia hatte nichts dagegen. Sie unterhielt sich gern mit ihm, und dies war eine willkommene Gelegenheit. Er war jung, idealistisch, fleißig und ungewöhnlich charmant. In diesem langen, aufreibenden Sommer war er in seiner erfrischenden, unkomplizierten Art eine geradezu unwiderstehliche Ablenkung vom anstrengenden Alltag. Er verfügte bereits über ein profundes Wissen in praktischer Anatomie und studierte in seiner knapp bemessenen freien Zeit weiter, beseelt von demselben Drang wie sie: zu lernen. Sie hätte sich endlos mit ihm über Krankheiten unterhalten mögen.
Sie sagte sich, dass sein Aussehen keine Rolle spielte, aber natürlich war sie sich dessen bewusst, dass er ihr alles andere als unangenehm war. Groß und schlaksig, mit langen Armen und Beinen und einer gewissen linkischen Art, sich zu bewegen, erinnerte er Sanchia ein wenig an Pasquale, als dieser noch jung und unversehrt gewesen war. Er hatte störrisches, sandfarbenes Haar, das über der Stirn bereits schütter wurde, eine lange, klassisch römische Nase und fröhliche graue Augen.
»Ich kann mich kaum daran gewöhnen«, sagte Sarpi mit Blick zurück zu den Mauern des Arsenals. »Eine Stadt innerhalb einer Stadt. Das ist so eigenartig.«
»Ist es in Rom nicht auch so?«
»Ihr meint den Vatikan, nicht wahr? Nicht doch, das ist ganz anders. Leiser, enger, frommer.« Er lachte. »Seid Ihr schon einmal in Rom gewesen? Oder sonst wo außerhalb der Serenissima?«
»In Florenz, im vergangenen Jahr, aber es gefiel mir nicht sonderlich.«
»Wem gefällt es schon noch dort, jetzt, wo der Wahnsinn herrscht.«
Sie versanken abermals in Schweigen.
»Habt Ihr schon viele Leichenöffnungen vorgenommen?«, platzte Sanchia schließlich mit dem heraus, was sie am brennendsten interessierte.
Er hob die Schultern. »Es waren einige. Wenn man die Anatomie studiert, ist es unerlässlich.«
»Ach, wie gern wäre dabei ich an Eurer Stelle gewesen.« Ihr Ausruf kam mit solcher Inbrunst, dass sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte, doch er lachte nur. »Das kann ich mir denken. Eine Frau wie Ihr müsst diese Beschränkung Eures Horizonts als unerträglich empfinden.«
»Woher …«
»Woher ich weiß, wie sehr Euch nach Wissen dürstet? Ich habe Augen und Ohren. Die Leute sprechen mit mir. Viele, die ich nicht kenne, und einige, die ich recht gut kenne. Ein gewisser Simon aus dem Ospedale di San Lorenzo ist zum Beispiel einer jener Leute, die ich kenne. Und ein Drucker namens Aldo, bei dem Ihr einen Teil Eurer Freizeit verbringt. Genau wie ich.«
Sanchia schaute verstohlen zu ihm auf. »Ihr geht auch zu Manuzio?«
»Zu wem sonst? Er ist der beste Drucker weit und breit. Er hat Aufträge aus aller Welt. Wer die neuesten, klügsten, buntesten, interessantesten Bücher sucht, ist bei ihm richtig. Und von den Schätzen des Altertums, die sich bei ihm stapeln, ganz zu schweigen. Aristoteles, Theokrit, Sophokles! Er erschafft sie neu und schenkt sie der ganzen Welt, und das sogar in griechischen Lettern!« Sarpi lachte wieder, voller Begeisterung. »Man ist bei ihm sozusagen an der Quelle des Wissens. Und was das Beste ist: Man kann die Bücher sehen, anfassen, lesen – und muss sie nicht für horrendes Geld kaufen. Weil nämlich hin und wieder ein Fehldruck dabei ist, den man mit nach Hause nehmen kann.« Er zwinkerte ihr zu. »Vorausgesetzt, man hat vorher für ihn ein paar medizinische Texte redigiert.«
Sanchia erwiderte sein Lächeln. »Er mag Menschen, die sich für seine Kunst interessieren. Er ist vernarrt in seine Lettern, und wenn er dann das fertige Ergebnis zusammenfügen und binden kann, schäumt er über vor Begeisterung. Allein das zu erleben macht einen Besuch bei ihm lohnend.«
Er schaute sie von der Seite an. »Wisst Ihr, dass es mir genauso geht? Dass ich dasselbe denke, wenn ich dort bin? Ist das normal, dass zwei Menschen so viele ähnliche Gedanken und Empfindungen haben?«
Sanchia wich seinem Blick aus. Mit einem Mal fühlte sie sich eigentümlich gehemmt, und sie begriff, dass sich eine Veränderung anbahnte. Sie hatte begonnen, ihn als Mann wahrzunehmen. Plötzlich war er nicht länger nur ein Arzt, sondern ein interessanter, witziger, vielseitiger Mensch, dessen Lachen eine erstaunliche
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