Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Oberitaliens beendet hatten und wieder in die Lagune kamen.
Aus der Menschenmenge tönten Beifallsrufe und Jubel. Sanchia hatte erst einmal den Zirkus erlebt, und das war mindestens fünf Jahre her. Sie schob sich durch das Gedränge nach vorn, um ebenfalls einen Blick auf die Schausteller zu erhaschen. Sie hörte den Löwen in seinem Käfig brüllen, was ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Als sie seiner schließlich ansichtig wurde, ließ ihre Begeisterung nach, aber nur wenig. Sein Fell mochte räudig sein und seine Mähne bis auf ein paar kümmerliche dunkle Zotteln nicht mehr vorhanden, aber seine riesigen gelben Fangzähne machten immer noch Eindruck. Den Mann, der hinter dem Käfig stand und das Raubtier mit einer Stange zum Brüllen animierte, musste man sich einfach wegdenken.
Über ein Seil, das zwischen zwei Aufbauten gespannt war, balancierte ein junges Mädchen, das wie eine Haremstänzerin gekleidet war. Genau genommen trug sie außer einem neckisch kurzen Oberteil nur ein flatterndes Gebilde um die Hüften, das starke Ähnlichkeit mit Eleonoras arabischem Tuch hatte. Als sie das Ende des Seils erreicht hatte, sprang sie graziös auf die Plattform des Aufbaus, wo sie ohne Ankündigung zuerst einen Handstand und daran anschließend einen Überschlag vollführte, so biegsam und geschmeidig, als sei sie ohne Knochen zur Welt gekommen. Unter dem zustimmenden Johlen der Zuschauer schickte sie sich an, erneut über das Seil zu laufen – diesmal mit verbundenen Augen.
Eine weitere Attraktion stellte der Feuerschlucker dar, der mit der einen Hand eine Flasche und mit der anderen eine brennende Fackel vor sich hertrug. Unter vielen Aaahs und Ooohs der Umstehenden führte er abwechselnd beides zum Mund und spie sodann Flammen, die mannshoch in die Luft schlugen und die Leute ehrfürchtig zurückweichen ließen.
Als beeindruckend fingerfertig erwies sich auch der Jongleur, der das Kunststück zuwege brachte, sieben Bälle gleichzeitig durch die Luft wirbeln zu lassen, einen Teil davon sogar hinter seinem Rücken.
Die weitaus größte Sensation aber bildete zweifellos der Messerwerfer. Seine Bravourstückchen ließen die Zuschauer zwischen entsetztem Kreischen und frenetischer Begeisterung wechseln. Grund der Aufregung war seine Assistentin, die mit gespreizten Gliedern an eine große hölzerne Bretterwand gefesselt war. Um Hand- und Fußgelenke waren Lederriemen gewunden und an Nägeln befestigt, die jeweils in passender Höhe aus der Wand ragten. Wie die Seiltänzerin war auch diese Artistin leicht bekleidet, was einen guten Teil des allseitigen Enthusiasmus ausmachte, da sie um einiges draller war. Ihre Brüste waren fast so groß wie ihr Kopf – nicht zusammengenommen, sondern einzeln. Die Frau trug ein weißes Gewand im Stil einer griechischen Tragödie, über einer Schulter zusammengeknüpft und die andere gänzlich freilassend, und auch ihr Haar war frisiert wie das einer Nymphe, nämlich gar nicht. In wallenden Locken fiel es über ihre Brüste, die von dem klaffenden Ausschnitt des Kleides kaum gebändigt wurden. Jeder Fingerbreit ihres Äußeren signalisierte, dass sich hier eine Jungfrau in Gefahr befand, ein Eindruck, der von ihren schrillen Aufschreien wirksam verstärkt wurde. Diese Schreie kamen im selben Takt wie die Messer, von denen eines ums andere herangeschossen kam. Jedes einzelne davon verfehlte sie nur um Haaresbreite. Zitternd blieben die Klingen dicht neben ihrem Körper stecken, einige von ihnen so nah, dass Locken und Teile des Gewandes an die Bretter genagelt wurden. Die Zuschauer verfolgten mit aufgerissenen Augen und noch weiter offen stehenden Mündern, wie ein rundes Dutzend Messer nacheinander durch die Luft zischten und sich ins Holz bohrten, begleitet vom auf- und abschwellenden Kreischen der Frau.
Der Messerwerfer, ein kräftiger, kahl geschorener Bursche in orientalischen Pumphosen, schleuderte sein letztes Wurfgerät. Tödlich blitzend sauste es dicht neben der Schläfe der Nymphe ins Holz. Der Schrei, der mit dem Auftreffen des letzten Messers zusammenfiel, klang fast echt.
Der Mann genoss die Bewunderung des Publikums und verneigte sich nach allen Seiten. Der Schweiß troff ihm über das Gesicht und perlte auf der behaarten Brust seines nackten Oberkörpers.
Ein kleiner Junge von vielleicht fünf Jahren, der neben Sanchia stand und die Hand seines Vaters umklammerte, äußerte sein Missfallen an der Vorführung. »Jetzt hat er so oft geworfen und kein
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