Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Brauen.
Sie begriff, dass er nicht vorhatte, sie zu töten, zumindest nicht hier und nicht jetzt. »Lass mich sofort los, du widerwärtiger Mörder«, stieß sie keuchend hervor.
»Ah, was für ein Temperament!« Er lächelte sie mit verhangenem Blick an, doch tief in seinen Augen war es kalt wie zersplittertes Eis. »Komm mir nicht mehr in die Quere, kleines Mädchen«, wisperte er. »Und mach dir vor allem klar, dass dein Leben keinen Soldo wert ist.« Er fuhr ihr unter die Haube und ergriff eine Hand voll von ihrem Haar. »Hängst du an ihnen, diesen herrlichen mondlichtfarbenen Locken?« Seine Stimme war nur noch wie Nebelhauch. »Möchtest du sie behalten? Oder würdest du sie opfern, um deinen Kopf zu retten? Würdest du sie hergeben, damit andere sich damit schmücken können?«
Diesmal waren es nicht seine Hände, sondern schieres Entsetzen, das ihr die Luft abschnürte. Aber schon mit seinen nächsten Worten bewies er, dass er über Waffen gebot, die weit mächtiger waren.
»Wie geht es eigentlich der kleinen Toderini? Wie hieß sie gleich? Eleonora? Ihr wart doch immer ein Herz und eine Seele. Sogar im Gefängnis. Wo du bist, ist sicher auch sie nicht weit.«
In seinen Augen las sie die tödliche Drohung, und plötzlich fröstelte sie trotz der sommerlichen Hitze bis auf die Knochen.
Endlich ließ er sie los. Zitternd schöpfte sie Atem, während Enrico sich rückwärtsgehend von ihr zurückzog. Jeder Zoll ein ehrenwerter junger Edelmann, prachtvoll gekleidet, würdig in der Haltung und von angenehmem Äußeren, drehte er sich schließlich um und schritt ohne jedes Zeichen von Hast davon.
Mit schmerzendem Hals und wackligen Knien schleppte sie sich auf die Brücke und von dort aus weiter auf die Riva degli Schiavoni.
Er muss sterben, er muss sterben, dröhnte es in ihr, immer wieder, wie eine Litanei, die sich endlos wiederholte und mit jedem Mal mehr Kraft gewann. Getrieben von der Angst, er könnte bereits jemanden vorausgeschickt haben, beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie eine freie Gondel an einem der hölzernen Stege fand, die von der Riva ins offene Wasser ragten. Mit dem Boot würde sie wesentlich schneller sein als zu Fuß.
Sie nannte dem Gondoliere ihr Ziel und befahl ihm, sich zu beeilen. Er nickte und musterte sie eingehend, als sie in der Felze Platz nahm.
»Ich kenne euch«, sagte er erfreut. »Genauso eilig wie beim letzten Mal, vor ein paar Jahren!« Er brach in vergnügtes Kichern aus und präsentierte etliche Zahnlücken. »Nur diesmal ohne den notgeilen Hurenbock .« Er bedachte sie mit einem vertraulichen Zwinkern. »Ah, wie heiß es an jenem Tag in Venedig war! Nie vergesse ich diese Hitze, aber noch weniger Eure strahlende Schönheit sowie die Eures männlichen Begleiters! Was ist aus ihm geworden? Hat er euch zur Frau genommen?«
Als sie schwieg, setzte er weniger überschwänglich hinzu: »Darf ich diesmal eine Serenade für euch singen, Madonna?«
Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, ob dieser Tag ihr nicht schon genug Plagen beschert hatte. Doch plötzlich stand das Bild jener ersten, traumverlorenen Gondelfahrt mit Lorenzo ihr wieder so intensiv vor Augen, dass es ihr Inneres vollständig gefangen nahm. Sie hob das Verdeck der Felze und tauchte eine Hand ins Wasser. Während sie der sprudelnden Spur ihrer Finger mit den Blicken folgte, ergab sie sich den bitter-süßen Erinnerungen.
Als sie an ihrem Häuschen eintraf, brach jedoch die Gegenwart wieder mit Macht über sie herein. Eleonora empfing sie bereits an der Haustür, bleich bis in die Lippen und mit geschwollenen Augen. Sie sah aus, als hätte sie stundenlang geweint.
»Was ist?«, fragte Sanchia mit entsetztem Blick zur Treppe. »Der Kleine …?« Agostinos Fieber war in der vergangenen Nacht zum ersten Mal gesunken, doch Sanchia wusste nur zu gut, dass jede Besserung in diesem Stadium der Krankheit trügerisch sein konnte. Er hatte sich mehrmals übergeben, und am Morgen war heftiger Durchfall dazugekommen.
Eleonora schüttelte den Kopf. »Es geht ihm besser. Ich habe ihm stündlich einen Becher Kamillensud eingeflößt, so wie du gesagt hast. Er hasst es, aber er hat es getrunken. Erbrochen hat er sich nicht mehr, und der Durchfall scheint auch aufgehört zu haben.« Sie senkte den Kopf und nestelte in der Tasche ihrer Schürze herum.
»Was hast du da?«, fragte Sanchia, obwohl sie es bereits zu wissen glaubte.
»Ich habe … Er ist …« Eleonora stockte und holte mühsam Luft, während sie
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