Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
den zerknitterten Bogen hervorholte und ihn Sanchia reichte. »Lies selbst.«
Sanchia glättete das Papier und überflog die kurze Botschaft. Diesmal hatte er jedes einzelne Wort selbst geschrieben, die Buchstaben schief, die Zeilen schräg nach unten wegrutschend, dieselben verdrehten A’s wie beim letzten Brief.
Bin wieder zu Hause auf Murano. Warte auf dich. Pasquale .
Lorenzo schaute aus dem Fenster und sah Enrico Grimani über die Piazzetta stolzieren, den Rücken durchgedrückt und den Kopf so hoch erhoben, dass er fast aussah wie ein Pfau, der den Betrachter gleich mit einem schwungvollen Rad überraschen würde. Die schwarze Robe, die bei den Sitzungen im Rat der Zehn üblich war, trug er nur ungern.
Auf Höhe des Campanile blieb er stehen und sprach mit einem Mann, in dem Lorenzo zu seiner Überraschung seinen Vater erkannte. Wenn ihn seine Augen nicht sehr täuschten, lachten die beiden sogar miteinander. Gleich darauf gingen sie zu einer der Buden im Schatten des Glockenturms, an denen kleine Gläser Wein ausgeschenkt wurden. Lorenzo sah, wie sie einander zuprosteten, und lächelte sarkastisch.
Sein Vater verstand es wie kein Zweiter, alle Register zu ziehen, um im Intrigenspiel der Mächtigen an erster Stelle mitzumischen. Ob bei einer Sitzung im Palazzo Ducale oder der Ombretta auf der Piazza – jede Gelegenheit war passend.
Lach deinem Gegner ins Gesicht, während du das Messer wetzt, das du ihm in die Rippen stößt, sobald er dir den Rücken kehrt.
Wer hatte das einst zu ihm gesagt, um ihm zu verdeutlichen, wie es in der Regierung zuging? Sein Vater oder sein Onkel? Lorenzo dachte kurz darüber nach, aber als er das ungeduldige Hüsteln hinter sich hörte, wurde ihm klar, dass er sich auf sträfliche Weise hatte ablenken lassen. Enrico war es wirklich nicht wert.
Der portugiesische Gesandte saß zurückgelehnt auf dem unbequemen Stuhl und fragte sich vermutlich, was er hier verloren hatte. Ein Stockwerk unter ihnen gab es einen monströsen Saal, der so groß war, dass mehrere Paläste hineingepasst hätten, und sie saßen hier oben in einem winzigen, stickigen Sitzungszimmer, in dem es sicher fast so heiß war wie in den berüchtigten Bleikammern im Obergeschoss.
»Sprecht weiter«, sagte der Sekretär zu Lorenzo, sichtlich bemüht, ein Gähnen zu unterdrücken. Das Amt, das sich mit Handelsfragen rund um die neu entdeckten Kontinente befasste, war erst vor kurzem geschaffen worden und so langweilig, dass der zuständige Zehnerrat einen Adjutanten geschickt hatte, der ihn bei den Verhandlungen mit dem Portugiesen vertreten sollte. Langweilig war es deshalb, weil die Serenissima bei der Kolonisierung schlicht den Anschluss verpasst hatte und somit Spanien, Portugal und England den Kuchen unter sich aufteilen konnten. Während Venedig immer noch Handelsstützpunkte im Osten errichtet hatte und sie unter kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Türken wieder aufgeben musste, waren die hochseetüchtigen Schiffe der anderen Staaten bereits in neue Welten vorgestoßen und hatten diese ohne großes Federlesen annektiert. Wie vorher nicht anders zu erwarten, führte das zu Streitigkeiten, wenn auch weniger mit der unterworfenen Bevölkerung als vielmehr unter den Eroberern.
Lorenzo lächelte den Portugiesen gewinnend an. »Vielleicht schildert Ihr noch einmal kurz die politischen und vertraglichen Gegebenheiten, damit der geschätzte Vertreter des Zehnerrats sich ein vollständiges Bild machen kann.«
»Nun«, hob der Gesandte in akzentgefärbtem Venezianisch an, »die Vorgeschichte ist folgende. Bereits im Jahre 1481 wurden in der Päpstlichen Bulle Aeterni regis alle Gebiete südlich der Kanarischen Inseln der Krone von Portugal zugesprochen. Im Jahre 1493 folgte die Bulle Inter caetera , die eine Trennlinie bei einhundert Leguas westlich der Kapverdischen Inseln von Pol zu Pol in nordsüdlicher Richtung festschrieb. Alle Gebiete, die westlich dieser Linie lagen, wurden der spanischen Krone zugesprochen, alle östlich befindlichen Gebiete sollten an Portugal fallen. Im Jahre 1494 wurde schließlich nach zusätzlichen Verhandlungen ein Vertrag zwischen Spanien und Portugal ratifiziert, der die endgültige Demarkationslinie neu festlegte.«
Der Sekretär des Zehnerrats schloss die Augen, scheinbar aufmerksam lauschend. Während der portugiesische Diplomat in allen Einzelheiten die Entstehungsgeschichte des Vertrags von Tordesillas in der staubigen Amtsstube ausbreitete, nickte der
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