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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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forschend an. »Was denkst du?«
    »Rom ist irgendwie so … klein und glanzlos«, meinte Sanchia. »Ich dachte immer, es wäre die wichtigste Stadt der Welt!«
    »Du bist an Venedig gewöhnt, an die Pracht, an das Gewimmel auf den Straßen und Kanälen. Nebenbei, Venedig ist tatsächlich viel größer als Rom. Dort leben fast viermal so viele Menschen wie hier.« Er lächelte. »Dafür gibt es in Rom mindestens doppelt so viele Kurtisanen wie in Venedig.«
    Ihr blieb der Mund offen stehen. »Obwohl die Bevölkerung nur ein Viertel beträgt? Sind die Menschen hier so verderbt?«
    Er lachte. »Nein, es gibt so viele unverheiratete Männer. Es sind ihrer tausende, und sie kommen aus aller Welt hierher, um ihr Glück zu machen. Sie sind allesamt unbeweibt und folglich unbefriedigt.«
    »Was hindert sie daran, sich eine ehrbare Frau zu suchen?«
    »Das Zölibat«, sagte Lorenzo trocken. »Es sind Kleriker, die hier sind, um der Kirche zu dienen. Oder genauer, um einträgliche Ämter aufzutun, von denen sie und ihre Familien leben können. Im Übrigen sind die Kurtisanen in Rom durchaus ehrbar.«
    »Du willst mich aufziehen.«
    »Ich gebe zu, es macht mir Spaß, dich zu necken, aber in dem Fall ist es kein Scherz. Die Kurtisanen gehören wirklich einem anerkannten und nicht im Geringsten anrüchigen Berufszweig an. Kurtisanen sind im Allgemeinen in Rom sehr angesehene Damen und in den höchsten Häusern gern gesehene Gäste.«
    Sanchia dachte unwillkürlich an Giulia und fragte sich, was diese wohl von Rom als Wirkungsstätte gehalten hätte. Ob sie in Florenz ihrem Ziel, es mit den Reichen und Mächtigen aufzunehmen, näher gekommen war? Es war nicht auszuschließen, so wie sie Giulia kannte – vorausgesetzt, die Krankheit hatte sich nicht verschlimmert. Die Lues war tückisch; sie konnte rasant zum Tode führen oder aber auch nach dem ersten schlimmen Schub mit Pusteln und Fieber jahrelang im Körper schlummern, bis sie ganz plötzlich wieder ausbrach und einen eben noch scheinbar gesunden Menschen in ein Wrack verwandelte. Damals, als Giulia daran erkrankt war, hatten sie noch zu wenig darüber gewusst, weil die Lues völlig neuartig war. Inzwischen waren die Spätfolgen dieser pestartig über Europa hereingebrochenen Seuche hinreichend bekannt. Sie führte in manchen Fällen zu Hirnerweichung und verwandelte die Befallenen in lahme, sabbernde Schwachsinnige. Nicht selten faulte ihnen von innen heraus die Nase ab, was zu entsetzlichen Entstellungen führte. Sanchia verdrängte das Grauen, das sie bei dem Gedanken überkommen wollte, Marco könnte seine schöne Mutter so leiden sehen. Der Kleine war jetzt fünf Jahre alt, er hatte genug Verstand, um eine Gefahr zu erkennen, wenn er sie sah. Sanchia vermisste ihn immer noch, und das Gefühl, in dem Jungen etwas Wunderbares unwiederbringlich verloren zu haben, verstärkte sich häufig, wenn sie Lorenzo anschaute und in seinen Zügen das kindliche Gesicht Marcos wiedererkannte.
    Sie tröstete sich damit, dass sie wenigstens Tino bald wiedersehen würde. Einer der Briefe, die sie nach Rom vorausgeschickt hatte, war hoffentlich bei Eleonora angekommen, die vermutlich bereits alle Geschütze aufgefahren hatte, um Sanchia mit einem Gastmahl zu empfangen, das Rom bis dahin noch nicht erlebt hatte. Inbrünstig gab sie sich schwelgerischen Gedanken über die lukullischen Genüsse hin, mit denen Eleonora sie verwöhnen würde, doch wenige Augenblicke später verging ihr schlagartig der Appetit.
    Sie stieß einen entsetzten Laut aus.
    »Sieh nicht hin«, befahl Lorenzo ihr.
    Aber wie sollte das gehen? Sie waren ja überall! Von allen Seiten her schienen sie auf sie herabzustarren, boshafte leere Augenhöhlen aus toten Gesichtern. Die Hufe ihrer Pferde klapperten auf dem Pflaster, während sie langsam über eine Brücke ritten, bei der rechts und links auf langen Stäben die Köpfe von Enthaupteten steckten. Fliegen sammelten sich über offenen Mündern und verwesenden Gesichtszügen, und als sie näher heranritten, musste Sanchia sich ein Tuch vor Mund und Nase ziehen, weil sie sich sonst hätte übergeben müssen. Würgend schloss sie die Augen. Sie wusste, dass die Köpfe oder auch die Leiber hingerichteter Verbrecher zu Abschreckungszwecken der Öffentlichkeit präsentiert wurden, doch den Sinn dahinter konnte sie nicht erkennen. Weder das Richtschwert noch die Darbietung des blutigen Ergebnisses hatten je vermocht, Menschen von Gesetzesverstößen abzuhalten. Hinzu kam, dass

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