Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
starrte sie sekundenlang an, bevor das Mädchen ins Wasser glitt und sich ihren Blicken entzog. Sie streckte die langen Beine aus, ohne Sanchia dabei mehr als nötig zu berühren.
Sanchia schluckte und atmete tief durch, während sie das schöne Gesicht mit den geschlossenen Augen vor sich betrachtete. Das Mädchen machte tatsächlich den Eindruck, als wollte es lediglich baden. Nun ja, es war genug Wasser da, und ihr Gegenüber sah nicht danach aus, als würde es unter üblen Absonderungen leiden.
Plötzlich wurde Sanchia sich der Stille bewusst, und als sie sich umschaute, stellte sie fest, dass die übrigen Dienerinnen den Raum verlassen hatten.
»Es kommt mir vor, als würde ich Euch schon ewig kennen«, sagte das Mädchen, ohne die Augen zu öffnen.
»Das scheint Euch nur so, weil ich Euch ähnlich sehe.«
»Nein, nein, es ist ein sicheres Gefühl, und auf Gefühle gebe ich viel. Ihr seid eine Frau, die anderen hilft.«
»Ihr habt über mich gehört, nicht wahr?«
»Was sollte ich denn über Euch gehört haben?« Das Erstaunen des Mädchens wirkte echt, und Sanchia wollte bereits beiläufig das Thema wechseln, doch dann sagte sie sich, dass sie in diesem besonderen Punkt nichts zu verbergen hatte.
»Ich wurde in einem Kloster erzogen und habe bei meiner Äbtissin den Beruf einer Hebamme erlernt. Sie hat mir auch das Heilen und die Pflege von Kranken beigebracht.« Sie sagte es nicht ohne Stolz.
Jetzt öffnete das Mädchen die Augen. »Ich wusste es. Ihr habt eine besondere Gabe. Die Gabe, zu sehen und zu helfen.« Sie wandte das Gesicht zur Seite. »Wie ist es, mit einem so wundervollen Mann wie Lorenzo Caloprini verheiratet zu sein?«
Sanchia fühlte einen winzigen Stich von Eifersucht. Ob er bei einem seiner früheren Aufenthalte hier … Nein, dafür war das Mädchen zu jung, sie konnte kaum siebzehn sein. Dann fiel ihr ein, dass sie selbst auch nicht älter gewesen war, damals an jenem heißen Tag in der Felze. Und was wusste sie denn schon über Zofen und Kurtisanen? Sie kannte nur Giulia, und die war gewiss keine Hure, sondern eine Frau, die es wert war, Freunde zu haben.
»Ihn zum Gemahl zu haben ist eine Art Abenteuer«, sagte sie betont sachlich.
Das Mädchen seufzte schwer. Es bewegte sich träge im Wasser, bis die Brüste wie kleine spitze Hügel die ölige Oberfläche durchstießen.
»Ich bin auch verheiratet«, sagte sie zu Sanchias Überraschung. »Aber mein Ehemann ist geflohen.«
»Geflohen?«, echote Sanchia verständnislos.
Das Mädchen nickte. »Giovanni ist am Karfreitag nach Pesaro aufgebrochen, so schnell, dass sein Pferd tot am Ziel zusammenbrach.«
»Nach Pesaro?« Sanchia fiel nichts Besseres ein, als ihre Frage wieder in Form einer Wiederholung zu stellen. Sie merkte, dass es nicht sonderlich intelligent klang, und hastig setzte sie hinzu: »Warum denn?«
»Weil er von dort stammt. Er ist der Graf von Pesaro. Er hat hier bei Hofe nur aus dem Grund gelebt, weil er mein Mann ist.«
»Ich meinte nicht, warum er nach Pesaro geflohen ist, sondern warum er überhaupt geflohen ist.«
»Weil er um sein Leben bangte.« Traurigkeit stand in den Augen des Mädchens. »Ich habe ihn sehr gern, und ich glaube, er mich auch.« Sie seufzte abermals. »Wir müssen uns dennoch trennen und die Ehe auflösen. Es ist im Interesse aller.«
Sanchia schaute sie verständnislos an und wollte gerade ihre Frage formulieren, als das Mädchen weitersprach. »Die Venetier – sie haben von jeher ihre schützende Hand über Pesaro gehalten, und Giovanni besaß dort immer das Wohlwollen der Serenissima. Meint Ihr, das wird so bleiben?«
Das Wasser war mit einem Mal kalt, der Kräuterdampf von den Kohlenbecken rußig und der Geruch des Badeöls durchdringend süßlich. Sanchia hatte sich an den äußeren Rand der Wanne zurückgezogen. Das maurische Hemd schien sich in einen Kettenpanzer zu verwandeln, der ihr die Luft abschnürte, und die Kerzen fingen wie von Geisteratem bewegt plötzlich an zu flackern. In dem Raum herrschte eine eigenartige Atmosphäre, eine unterschwellige Bedrohung, die sie von allen Seiten her einzuengen schien.
»Wer, um alles in der Welt seid Ihr?«, flüsterte sie. »Wie ist Euer Name?«
Das blonde Mädchen erwiderte ihren Blick. »Lucrezia«, sagte sie. »Lucrezia Borgia.«
»Mag sein, dass es eine Verschwörung gab, ihren Mann umzubringen«, sagte Lorenzo leicht gereizt, während er unruhig in dem Schlafgemach herumlief. »Aber glaub mir, in diesem Haus wird auch
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