Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
wie möglich sah.
Lucrezia blickte sich erwartungsvoll um, es war nur zu klar, nach wem sie Ausschau hielt. Doch es war nur eine Spur Mutwillen in ihren Zügen zu entdecken. Die Gefühlsregung, die sie beherrschte, war eine andere: Sie hatte Angst, und sie stand unter großem Druck. Sanchia konnte in ihrem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Die gut überschminkten Schwellungen unter ihren Augen deuteten darauf hin, dass sie geweint hatte. Sanchia fühlte eine unerwünschte Regung von Mitleid. Armes Ding, dachte sie.
Die Sache mit dem Kleid war kaum mehr als ein harmloser, liebenswürdiger Streich, und vielleicht sogar nicht einmal als solcher gedacht, sondern eher eine Bitte um schwesterliche Eintracht. Oder der verzweifelte Wunsch, jemanden an ihrer Seite zu haben, der so war wie sie. Jemand, dem sie vertrauen konnte.
Sie musste unglaublich einsam sein.
Lorenzo musterte die äußere Erscheinung der blonden Papsttochter mit zusammengekniffenen Augen. »Da bahnt sich ein unerfreuliches Spiel an, wenn du mich fragst. Ich halte es für angebracht, wenn wir auf der Stelle gehen.« Er ergriff Sanchias Arm und zog sie mit sich. »In diesem allgemeinen Begrüßungs- und Huldigungstrubel wird es nicht weiter auffallen, wenn wir verschwinden.«
»Aber … Das Essen!«
»Du kannst später essen.«
Sanchia warf einen sehnsuchtsvollen Blick in den Speisesaal. Ja, natürlich, sie konnte später essen, in einer Trattoria, wo die Gäste ihre Teller ableckten und alle Welt über den Stand ihrer Verdauung informierten, indem sie rülpsten und furzten, bis sich die Deckenbalken bogen.
Lucrezia hatte Sanchia entdeckt und warf ihr einen flehenden Blick zu, während Lorenzo energisch in Richtung Treppe strebte. Er hielt Sanchias Ellbogen unnachgiebig umklammert, und als sie seinen schnellen Schritten nicht folgen konnte, legte er ihr eine Hand in den Rücken, um ihrem Tempo nachzuhelfen.
Noch bevor sie die Treppe erreicht hatten, kam es im Saal zu einem Tumult. Schreie wurden laut, und beim Zurückblicken sah Sanchia, wie Juan auf den jungen Kämmerer des Gastgebers losging. Er reckte ihm die Fäuste entgegen und brüllte ihm spanische Flüche ins Gesicht, und er hörte erst damit auf, als der Papst mit einem Machtwort dazwischenfuhr.
Auf einen Wink Alexanders sprangen zwei der spanischen Bewaffneten auf den Kämmerer zu und packten ihn. Gegen den halbherzig hervorgestammelten Protest des Gastgebers Ascanio Sforza, der wie eine rote Wolke herangesegelt kam, schleppten sie ihn aus dem Saal und die Treppe hinunter, dicht an Lorenzo und Sanchia vorbei.
Sanchia fing einen kurzen, verzweifelten Blick des jungen Mannes auf, bevor er weiter nach unten gezerrt wurde. In diesem Augenblick nützten ihm seine noble Kleidung und sein vornehmes Gehabe nichts mehr, er war nur noch ein Mensch, der Todesangst ausstand.
»Was hat er getan?«, fragte Sanchia.
»Er hat einen Satz geäußert, in dem die uneheliche Geburt des Herzogs von Gandìa erwähnt wurde«, sagte einer der Höflinge, die oben am Geländer standen und das Drama verfolgt hatten.
»Was geschieht jetzt mit ihm?«, wollte Sanchia von Lorenzo wissen, der sie eilig die Treppe hinunterzog.
Lorenzo zuckte die Achseln. »Er hat den Sohn des Papstes beleidigt.«
Sanchia war entsetzt. »Er wird dafür doch nicht etwa in die Engelsburg gesperrt?«
»Das bezweifle ich.«
Lorenzo gab durch nichts zu erkennen, dass er wütend war. Erst als sie ihr Gemach im Vatikanspalast betreten hatten, wandte er sich zu ihr um und ließ sie seinen Zorn spüren.
»Was sollte dieses Schauspiel vorhin?«
Sie gab sich unwissend. »Du meinst die Geschichte mit dem Kleid? Ich hatte keine Ahnung. Ich gebe zu, es war ein Geschenk von ihr, aber ich konnte nicht wissen, dass sie im gleichen Gewand erscheint.«
»Das meine ich nicht, und du weißt es genau.«
Sanchia setzte sich aufs Bett, um die feinen Seidenstrümpfe abzustreifen. Sie blickte auf. »Wenn du darauf anspielst, dass plötzlich dieser kleine Gefängniswächter dort im Palast auftauchte – nun, ich war genauso überrascht wie du.«
Er kam näher und blieb vor dem Bett stehen. »Es ist Zeit, dass du mir die ganze Wahrheit erzählst.«
»Ich habe dich nicht angelogen.«
»Bis jetzt noch nicht. Sanchia, du verbirgst etwas vor mir, nicht wahr?«
Sie merkte, dass sie errötete, sagte jedoch kein einziges Wort.
»Sanchia, ich will dir keine Angst einjagen. Aber ich könnte es.«
»Willst du mir drohen?«
»Ja«, sagte er
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