Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Maurer warten auf ihr Geld.« Ein weiterer Hieb. »Aber dürfen sie etwa in der Zwischenzeit einen neuen Auftrag annehmen?« Es war eine rhetorische Frage, auf die niemand antwortete. Außer Sanchia, die nach einer Weile schüchtern fragte: »Dürfen sie es etwa nicht? Dann ist es ein schlechtes Gesetz.«
Lombardo schnaubte bei dieser naiven Äußerung, doch als er sah, von wem sie kam, lächelte er nachsichtig. »Schau an, was für eine niedliche Kleine! Habt Ihr Besuch, Messèr Lorenzo?«
»Sie ist die Tochter des Glasmachers.«
»Ah, Foscari ist hier! Endlich lerne ich dieses verrückte Genie kennen! Er muss mir alles über seine Experimente erzählen!«
Lorenzo wurde von unbestimmtem Ärger erfasst. Dieser Glasmacher und seine Familie schienen ein Ansehen zu genießen, das weit über Murano hinausreichte. Er selbst hatte bis heute noch nichts von Piero Foscari gehört, doch allen, die etwas vom Baugewerbe verstanden, war sein Name offenbar ein Begriff.
Das Mädchen starrte fasziniert in die Baugrube. Allem Anschein nach sah sie so etwas zum ersten Mal. Lorenzo fühlte eine schwache Aufwallung von Sympathie.
Wie erwartet, bestürmte ihn der kleine blondschopfige Quälgeist mit ungezählten Fragen. Lorenzo glaubte, hin und wieder ein schadenfrohes Grinsen im Gesicht des Gesellen zu erkennen, doch er hatte wenig Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
»Fast alle Palazzi in der Lagune ruhen auf Pfählen, die in den Untergrund geschlagen werden«, erklärte er dem Mädchen auf die entsprechende Frage. »Man nimmt dazu dicke Eichenstämme, die vorher in Brackwasser eingeweicht wurden, um sie haltbarer zu machen. Damit man sie in den Boden rammen kann, muss zuerst ein freier Untergrund geschaffen und das Wasser abgepumpt werden. Und Löcher müssen für die Pfähle gegraben werden. Das ist hier schon geschehen.« Er wies auf den von Bohlen gestützten und von einer zusätzlichen Lehmwand abgesicherten Fangdamm, der den Bauplatz umgab und das Wasser des Kanals fernhielt. Mehrere Arbeiter hievten mit Flaschenzügen ein schweres Steingewicht in die Höhe und ließen es, begleitet von rhythmischen Gesängen, auf einen Pfahl niedersausen.
»Die Pfähle dienen der Verankerung des Fundaments«, sagte Lorenzo. Er hob die Stimme, um das Hämmern zu übertönen. »Nach Fertigstellung der Pfahlgründung wird die Baugrube mit Lehm abgedichtet und anschließend kreuz und quer mit Holzbohlen belegt. Auf diesen Bohlen werden dann später aus Ziegeln die eigentlichen Fundamentmauern errichtet, alles noch unterhalb der Wasserlinie. Darauf folgt dann eine Lage Marmor, der die oberhalb liegenden Mauern gegen die Feuchtigkeit schützt.«
»Was für eine kluge Bauweise!«, rief Sanchia aus.
Lorenzo betrachtete sie überrascht. Ihre Begeisterung war ebenso spontan wie ungekünstelt, eine Reaktion, die ihn auf unerklärliche Art berührte. Er kannte nicht viele Mädchen, schon gar keine so kleinen wie sie. Doch dafür, dass sie dem weiblichen Geschlecht angehörte, dem man allgemein größere Schwatzhaftigkeit und einen schwächeren Geist nachsagte, machte sie einen gewitzten Eindruck. Schwatzhaft war sie allemal, doch schien das, was sie von sich gab, zuweilen Hand und Fuß zu haben.
Auch Lombardo schien Gefallen an ihrer Wissbegier zu finden. Er erklärte ihr die Unterschiede zwischen Naturkalk und gebranntem Kalk und ließ sie an seinen Erfahrungen mit Trockenmauerwerk und Stuckputz teilhaben. Doch als sie gemeinsam mit Lorenzo in die Grube steigen wollte, um beim Bedienen des Flaschenzuges zu helfen, verbot er es kategorisch.
Sanchia und Pasquale schauten noch eine Weile bei den Arbeiten zu, doch mit der Zeit wurde es langweilig, sogar der fortgesetzte Gesang der Männer bekam einen einschläfernden Klang. Wusste man erst, wie es funktionierte, wurde der Zauber rasch von Gewohnheit verdrängt, das hatte Sanchia schon bei anderen Verrichtungen festgestellt. Bei manchen geschah es rascher als bei anderen, etwa beim Sticken oder Kochen, doch letztlich war es immer dasselbe. Das Lernen war spannender als das Wissen.
Sie bedankte sich höflich bei dem Baumeister, bevor sie mit Pasquale über die Fondamenta an den ausgebrannten Häuserreihen vorbei die kurze Strecke bis zum Ende des Rio zurückging. Während sie einen letzten Blick über die Schulter warf, fragte sie sich, ob sie Lorenzo wohl je wiedersehen würde. Seine Gegenwart hatte in ihr eine merkwürdige, aber angenehme Anspannung hervorgerufen, ohne dass sie dafür den
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