Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Mensch war und wo er lebte. Was die Kirche dazu sagte und der Staat. Kam es eher auf die inneren oder die äußeren Begleitumstände an? Oder war es am Ende eine gänzlich müßige Frage, da doch alles Leben vergänglich war und der Tod daher das unausweichliche Ende aller vom Anderssein Betroffenen?
Beschämende Hilflosigkeit bemächtigte sich ihrer, und wie selten zuvor wurde sie sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit bewusst. In ihrem Kopf schienen Hände nach etwas zu greifen, das in Reichweite vor ihr lag und sich dann doch jedes Mal ihrem Zugriff entzog wie ein flüchtiger Schatten. Der absurde Eindruck, dass das, was sie von der Welt ringsum sah, zu viel und doch gleichzeitig zu wenig war, wollte nicht weichen.
Pasquales Stimme riss sie aus ihren konfusen Gedanken. »Mir ist nicht gut, die Orangen liegen mir im Magen. Wenn es geht, bleibe ich lieber an der frischen Luft. Ich würde mir gern schon die Baustelle ansehen, Maestro.«
»Ja, tu das«, sagte Piero sofort. »Nimm die Kleine mit. Ich stoße dann später zu euch.« An seinen Auftraggeber gewandt, setzte er vorsorglich hinzu: »Wir haben bereits gegessen und getrunken.«
Damit war entschieden, dass sie ihn nicht in das Haus begleiten musste. Sanchia atmete befreit aus.
Giovanni Caloprini nahm es gleichmütig zur Kenntnis. Ihm ging es offenbar in erster Linie um die Gesellschaft von Piero Foscari.
»Lorenzo, du begleitest unseren Besuch und beantwortest alle Fragen«, wies er seinen Sohn an, bevor er mit interessierten Blicken verfolgte, wie Piero die Kiste mit den Glasmustern aus dem Boot holte.
Lorenzo konnte sich allem Anschein nach einen besseren Zeitvertreib vorstellen, denn er furchte die Stirn auf eine Weise, die seine mangelnde Begeisterung deutlich werden ließ. Mit mürrischer Miene blieb er stehen, bis sein Vater und der Glasmacher im Palazzo verschwunden waren, dann schob er die Daumen in seinen Gürtel und setzte sich ohne ein Wort in Bewegung.
Pasquale sprang aus dem Boot auf die Fondamenta und half Sanchia beim Aussteigen.
»Wir könnten einfach verschwinden und einen Spaziergang machen«, schlug er ihr leise vor, ein Zwinkern in den Augen. »Dem adligen Jüngling wäre es mit Sicherheit mehr als recht.«
Sanchia dachte kurz nach, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Ich möchte die Baustelle anschauen. Noch nie habe ich gesehen, wie ein Haus im Wasser erbaut wird.«
Pasquale schnitt eine gutmütige Grimasse. »Du bist so naseweis, dass es uns eines Tages noch alle ins Grab bringt. Du bist anders als alle anderen Mädchen in deinem Alter, weißt du das?«
Sie versuchte zu lachen, doch es wollte ihr nicht recht gelingen.
»Gib mir deinen Glücksbringer«, sagte Pasquale.
»Warum?«
»Er ist … wertvoll. Du könntest ihn verlieren, und dann würde es Ärger mit deiner Mutter geben.«
Ärger mit Bianca war das Letzte, worauf Sanchia aus war, und so zog sie folgsam das Lederband mit dem Silberschmuck über den Kopf und reichte ihn Pasquale, der den Anhänger kurz und mit undeutbarer Miene betrachtete, bevor er ihn in seiner Gürteltasche verstaute.
»Du weißt nicht zufällig, was der Glücksbringer darstellt, oder?«, fragte sie.
Bevor er antworten konnte, fügte sie rasch hinzu: »Vater und Vittore wissen es nicht, ich habe sie schon gefragt. Vittore hat lediglich gesagt, es sei ein Glücksbringer. Ich meine, es könnte vielleicht ein Vogel sein, mit ausgebreiteten Schwingen und einem lang gezogenen Hals. Was denkst du?«
»Wenn es ein Vogel wäre, dann einer ohne Kopf und ohne Schwanzfedern«, meinte Pasquale pragmatisch.
»Du hast Recht. Trotzdem sieht es aus wie ein Vogel.«
Er grinste. »Vermutlich wirst du es herausfinden, bevor der Tag zu Ende geht.«
»Pasquale, tut es weh, wenn man an Schwermut zu Grunde geht?«
Verdutzt über die plötzliche Wendung des Gesprächs, runzelte er die Stirn. »Bei den Heiligen, Kind! Wer gibt dir nur immer diese Fragen ein?«
»Ach Pasquale, wenn ich das doch nur selber wüsste!«
Die Sonne warf flimmernde Lichtreflexe vom Wasser des Kanals gegen die Kaimauer und überzog Pasquales bartloses, schmales Gesicht mit Helligkeit, bis es von innen heraus zu leuchten schien. Sanchia bemerkte zum ersten Mal, dass er eine Narbe unter dem rechten Ohr hatte, eine an sich bedeutungslose Kleinigkeit, die ihn aber mit einem Mal vertrauter und zugleich verletzlicher wirken ließ.
»Pasquale, warum bist du Glasmacher geworden?«
Er dachte nach und ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich wollte
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