Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Grund hätte nennen können.
Als sie sich der Ca’ Caloprini näherten, hörte sie eine Frauenstimme.
»Seht mich an«, ertönte es unterdrückt von oben.
Sanchia legte ebenso wie Pasquale den Kopf in den Nacken. Auf der schmalen, von Säulen flankierten Veranda, die das Halbgeschoss oberhalb des Wassertors zum Kanal hin abgrenzte, war eine verschleierte Frauengestalt zu sehen. Es musste eine der Damen sein, die zur Familie gehörten, da meist nur die adligen Frauen einen Schleier trugen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigten.
Sie hob die Hände und streifte den Schleier zurück, um ihnen ihr Gesicht zu zeigen. Es war blass und von erlesener Schönheit, mit ausdrucksvollen großen Augen und einem vollendet geschwungenen Mund. Das Haar, an sich eher brünett, wies viele helle Strähnen auf, die der üppigen Hochstreckfrisur schimmernden Glanz verliehen. Sanchia wusste sofort, dass sie die Gemahlin von Giovanni Caloprini vor sich hatte. Mochte Lorenzo auch stark seinem Vater ähneln, so war er doch gleichzeitig seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.
»Wer bist du, Mädchen?«, rief sie.
»Die Tochter des Glasbläsers.«
Irritation zeigte sich im Gesicht der Frau. »Wie ist dein Name, Kind?«
»Sanchia.«
Die Frau ließ einen Schrei hören, atemlos und dünn, fast wie das klägliche Maunzen eines der Kätzchen, mit denen Sanchia häufig bei den Sanudos spielte.
Die Gestalt auf der Veranda schwankte, und einen Moment fürchtete Sanchia, die Frau könne womöglich herabfallen.
Doch sie fing sich wieder. Mit beiden Händen die Brüstung umklammernd, schaute sie drein, als wäre ihr der Leibhaftige erschienen. »Das kann doch nicht sein«, stieß sie gepresst hervor. »Verflucht soll sie sein, sie und alle, die an ihrer Leine tanzten!«
Betroffen sah Sanchia, wie die Frau die Hand vor den Mund presste und die Augen schloss.
»Was meint Ihr?«, wagte Sanchia zu fragen.
Die Frau gab keine Antwort, aber sie schlug die Augen wieder auf, und gleich darauf verzerrte sich ihr Gesicht, bis es aussah, als trüge sie eine scheußliche Maske.
Sanchia wollte die Augen abwenden, doch der Blick der Frau schien den ihren festzunageln. Ihr war, als würde sie in einen kalten, dunklen Abgrund schauen.
»Warum bist du zurückgekommen?«, fragte die Frau. Dann schrie sie mit überkippender Stimme: »Warum kannst du nicht einfach tot sein?«
Sanchia stöhnte unwillkürlich.
Pasquales Hand legte sich auf ihre Schulter. »Komm.«
Wie durch Nebel wurde sie gewahr, dass seine Finger zitterten. Er zog sie zum Sàndolo und half ihr hinein. Sie ließ es verstört geschehen.
Pasquale befahl ihr, sich zu setzen, dann jagte er das Boot förmlich den Rio entlang. Als sie sich der Baustelle näherten, nahm er das Ruder aus dem Wasser. Bleich, aber gefasst, wandte er sich dem Baumeister zu, der vom Rand der Baugrube aus die Arbeiten beaufsichtigte.
»Richtet meinem Meister bitte aus, dass wir beim Quecksilberhändler auf ihn warten!«, rief Pasquale. Der Baumeister nickte, zum Zeichen, dass er die Bitte trotz des Gehämmers der Arbeiter verstanden hatte.
Von verzweifelter Ungewissheit erfüllt, schaute Sanchia Pasquale an. Doch der wich ihren Blicken beharrlich aus, während er das Boot durch die Kanäle lenkte. Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde. Sie folgten größeren, dicht befahrenen Wasserläufen ebenso wie winzigen, verlassen wirkenden Rii, scheinbar planlos und ohne besonderes System, um am Ende in unmittelbarer Nähe einer Abdeckerei zu landen. Der Kai dort war von verwesenden Häuten und Teilen von Tierkadavern übersät, die einen unbeschreiblichen Gestank verströmten. Weitere Aasbrocken schwammen im Wasser, umgeben von schmierigen Fettschlieren, die auf der Wasseroberfläche schillerten. Bald würde die ansteigende Flut die Abfälle aus den Kanälen der Stadt in die offene Lagune schwemmen, doch bis dahin verpestete der Unrat die Luft und erschwerte das Atmen. Sanchia hielt würgend die Luft an. Schwärme von Fliegen erhoben sich, als Pasquale das Boot vertäute.
»Der Quecksilberhändler – wohnt er hier?«, brachte sie mühsam heraus.
Pasquale legte das lange Ruder ins Boot und nickte. »Der Ort war der erstbeste, der mir eingefallen ist. Hm, tut mir leid. Es stinkt ziemlich, nicht?«
Sanchia mochte nicht auf diese überflüssige Feststellung antworten. Stattdessen schluckte sie gequält, als ein Mann in einer steifen Lederschürze aus einem Tor trat und mit ungerührter Miene ein Fass
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