Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
warten können, ohne Sebastianos dämliche Fragen beantworten zu müssen.«
Sie wartete, bis der Glasbläser endgültig gegangen war. Da das Boot mitsamt seinem Gesellen und seiner Tochter schon vorher verschwunden war, war er genötigt, eine Gondel zu mieten, was sie mit unbestimmter Belustigung erfüllte. Der große Künstler – er hatte plötzlich so ängstlich und betroffen ausgesehen!
Erst als die Gondel sich ihren Blicken entzogen hatte, wagte sie es, in die Dachkammer hinaufzusteigen. Hier war sie nicht völlig ungefährdet, aber seit sie vor ein paar Jahren den Riegel hatte anbringen lassen, durfte sie zumindest vor unliebsamen Überraschungen sicher sein. Der Spiegel an der Wand war neu. Er stammte nicht von Foscari, aber er war das Beste, was momentan in der ganzen Republik zu haben war. Es hieß, in Deutschland seien ebenfalls Erfolg versprechende Forschungen bei der Spiegelherstellung im Gange, doch es konnte Jahre dauern, bis jemand dieses neue Wissen nach Venedig brachte, wobei durchaus angezweifelt werden durfte, dass die Spione des Zehnerrats einen solchen Sendboten lange genug am Leben ließen.
Sie blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich. Am liebsten hätte sie mit der Faust das Glas zerschmettert. Ihr Antlitz wirkte in der uneben gearbeiteten Fläche so verzerrt, dass sie einen Schrei unterdrücken musste. Hilflos biss sie sich auf die Lippen und wartete, bis die Anwandlung von Zorn vorüberging. Im Zorn hatte sie schon furchtbare Dinge getan. Sie erkannte, dass sie von den Ereignissen des heutigen Tages aufgewühlt war. Wenn sie sich nicht beherrschte, konnte das schlimme Folgen haben. Beherrschung war jedoch die unabdingbare Voraussetzung für ein sicheres Leben.
Sie trat näher zum Spiegel und spürte erneut das Entsetzen in sich aufsteigen. Ihr Haar war so dunkel! Obwohl sie häufig, wenn niemand es mitbekam, Zitronensaft hineinträufelte und es der prallen Sonne aussetzte, würde es niemals von allein jenen Farbton annehmen, den die Hexe Sanchia ihr Eigen genannt hatte, ebenso wie es ihre Tochter tat, die heute plötzlich und wie ein Geist aus der Vergangenheit hier aufgetaucht war. Beider Haar hatte dieselbe Farbe. Mondlicht, das sich in der Lagune spiegelte. Silber, von der Sonne beschienen. Reines, helles, herrlich schimmerndes Haar.
Sie stöhnte auf und griff sich an den Kopf, erfüllt von Selbsthass. Wie aus eigenem Antrieb bewegte ihr Körper sich auf die Truhe neben dem Spiegel zu. Sie holte den Schlüssel aus ihrem Schuh, das einzige Versteck, das ihr dafür sicher genug erschien. Er quietschte in dem altertümlichen Vorhängeschloss, doch der Deckel der Truhe klappte anschließend wie immer leicht und geräuschlos auf.
Hastig zog sie den Seidenstoff zur Seite, bis sie gefunden hatte, was sie brauchte. Während sie die silbern schimmernden Haarsträhnen glatt strich, dachte sie voller Dankbarkeit, was für ein Glück es doch gewesen war, dass die Flammen nicht den Dachstuhl erreicht hatten. Die Kammer wie auch die ganze obere Etage hatten bei dem Brand keinen Schaden genommen.
Mit zitternden Fingern streifte sie die Perücke über ihr eigenes, viel zu hässliches Haar und ging dann zögernd zurück zum Spiegel, um sich erneut zu betrachten. Ja, das war besser. Viel besser. Sie rückte die Haare der verfluchten Sklavin zurecht und fand sich schön. Ihre Haut war nicht so hell wie die der Hexe, aber deren Haar stand ihr gut.
Sie summte und spitzte die Lippen wie zum Kuss. Wenn sie nur immer dieses Haar tragen könnte! Oder das Kleid! Sie eilte abermals zur Truhe, um das Seidengewand herauszuholen. Natürlich war es ihr zu klein, die Sklavin war erst sechzehn gewesen, mit zierlicher Taille und schmalen Schultern. Sie selbst würde hundert Jahre hungern können und würde doch niemals diese grazile Gestalt erlangen. Doch sie hatte sich fast das gleiche Gewand schneidern lassen, es war eine sehr gute Imitation.
Rasch entledigte sie sich ihrer eigenen Gewänder, bis sie nackt war. Anschließend schlüpfte sie in das feine, durchsichtige Seidenkleid, in dem die Hexe ausgesehen hatte wie eine verruchte Odaliske beim Schleiertanz. O ja, sie war nur eine Sklavin gewesen, und dazu nicht mal eine besonders tüchtige. Aber sie hatte es verstanden, ihre Reize auszuspielen! Und sie hatte es tatsächlich geschafft, das verfluchte Kind zu bekommen, trotz der tödlichen Verletzungen. Ein Wunder oder eine lächerliche Laune des Schicksals? Sie wagte nicht, darüber
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