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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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unhöflich es sei, Leute anzustarren.
    »Mein Sohn, der Arbeiter.« Aus Giovanni Caloprinis Worten klang liebevoller Spott. Wenn irgend möglich, wurde der Junge noch verlegener. Ihm war anzusehen, dass er vermutlich sonst was darum gegeben hätte, sich einfach in Luft auflösen zu können.
    »Es dauert natürlich noch eine Weile bis zum nächsten Karneval«, fuhr Giovanni belustigt fort. »Dennoch dürft Ihr Euch nicht wundern, meinen Sohn bei jeder Gelegenheit kostümiert anzutreffen. Es scheint ihm ein besonderes Vergnügen zu bereiten, auf dem Bau Hand anzulegen. Ein Patrizier, an dem ein Baumeister verloren gegangen ist!« Er seufzte. »Tagein, tagaus treibt er sich auf der Baustelle herum. Am liebsten würde er vermutlich dort noch schlafen. Aber wozu diese bäuerliche Kleidung nötig ist, entzieht sich meinem näheren Verständnis.«
    Sanchia fragte sich, warum diese Worte sie ärgerten, doch gleich darauf wurde ihr der Grund klar. Ihr Vater, Pasquale, Vittore – überhaupt alle Männer aus ihrem Umfeld – waren ähnlich gekleidet wie der junge Patrizier, wenn auch ihre Sachen die meiste Zeit bei weitem sauberer und besser geflickt waren.
    Sie musterte den Jungen mit neu erwachtem Interesse. Ein Knabe wie er, dem die Mittel zur Verfügung standen, sich so herauszuputzen wie sein adliger Vater, und der dennoch die Kleidung eines Mannes aus dem Volke vorzog, musste anders als seine Altersgenossen sein. Anders zu sein – das war etwas, womit sie sich auskannte. Es gab Dinge, die in diese Kategorie fielen und dabei völlig harmlos waren, etwa helleres Haar, hellere Haut und ein lieblicheres Antlitz zu haben als die meisten Menschen. Dieses Anderssein führte zu Bewunderung und Neid beim Betrachter, aber es brachte einen auch dazu, ohne Grund stolz zu sein. Bianca hatte ihr beigebracht, dass es schiere Hoffart sei, stolz auf etwas zu sein, das der liebe Gott einem in die Wiege gelegt hatte. Sanchia hatte folglich beizeiten gelernt, es als lästig zu empfinden, wenn die Leute sich entzückt über ihr Äußeres ausließen. Sie konnte es nicht mehr hören, wenn jemand sie Engel oder Püppchen nannte. Kürzlich hatte ein umherziehender Bettelmönch in ihrem Beisein zu ihrem Vater gesagt, in wenigen Jahren werde sie aussehen wie die heilige Madonna persönlich, und er hatte angeregt, Piero möge ihre überirdische Erscheinung in einer Glasscheibe verewigen, um der Nachwelt einen Eindruck ihrer Schönheit zu erhalten. Sanchia hatte sich danach tagelang nicht mehr in der Werkstatt blicken lassen, aus Furcht, der Mönch könne wiederkommen und weitere Äußerungen dieser Art von sich geben, oder, schlimmer noch, ihr Vater könne auf den Gedanken verfallen, tatsächlich ein gläsernes Abbild von ihr herzustellen.
    Kurzum, hierbei handelte es sich um ein Anderssein, das ihr wenig behagte.
    Dann wieder mochte es um Wesenszüge gehen, die Verachtung und Niedertracht hervorriefen, wie zum Beispiel bei Carlo, dem Sohn des Schlachters, der entstellt zur Welt gekommen war und dessen in der Mitte gespaltener Mund bei den anderen Kindern Abscheu erregte und sie zu Spottversen reizte. Auch Carlo war anders, aber auf bemitleidenswerte Art. Anders war vermutlich auch der Mann, der heute auf der Piazetta enthauptet worden war. Er hatte unaussprechlich schreckliche Dinge getan, die sein Weiterleben unmöglich erschienen ließen. Er war so anders, dass es einen nicht nur schauderte, sondern auch tausend weitere Fragen aufwarf.
    Und schließlich gab es jene Art des Andersseins, die sich um geistige Ansichten drehte. Etwa um diesen unstillbaren Hunger, Dinge herauszufinden, die allgemein für unnütz und schädlich gehalten wurden, sobald ein Mädchen die Fragen stellte.
    Oder – vielleicht – im schmutzigen Gewand eines beliebigen Arbeiters und schlichten Sandalen mit dünnen Holzsohlen aus einem Palazzo auf die Fondamenta zu treten, obwohl doch Kleidung aus Samt und Seide bereitlag.
    Wobei sich, wie nach allen Vergleichen dieser Art, am Ende immer die Frage stellte, was dabei herauskam. War es gut oder schlecht, anders zu sein?
    Sanchia stellte fest, dass sie darüber noch nie nachgedacht hatte, obwohl es doch von so offenkundig dringlicher Bedeutung war, denn schließlich war sie selbst betroffen. Sicher würde sie es ergründen können, wenn sie sich in Gedanken nur eingehend genug damit beschäftigte. Doch sofort merkte sie, wie vielfältig dieses Thema war. Es gab zu viel, das berücksichtigt werden musste. Wie alt der

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