Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
»zur Seite gehen!« Und dann sprang er hoch und vorwärts durch die Luft, als hätte er plötzlich fliegen gelernt. Wie ein lebendes Geschoss traf er mit beiden Füßen zugleich den Türknauf, und Sanchia konnte gerade noch zurückweichen, bevor sich in einem dröhnenden Knall nicht nur die Tür auftat, sondern die ganze Welt um sie herum in Trümmer zu fallen schien. Der kleine Asiate wurde rückwärts in den Gang geschleudert, als das Tor aus den Angeln flog und krachend gegen den Felsen schlug. Holzsplitter, Steinbrocken und Mörtelfragmente waren überall und zischten haarscharf an ihrem Gesicht vorbei. Ein Heulen und Summen erfüllte die Luft, und Sanchia spürte voller Grauen, wie sich ihre Haare aufstellten, als würde eine Geisterhand sie nach oben streichen. Durch die vor ihnen liegende Dunkelheit zog ein bläuliches Glimmen, das jedoch gleich darauf verschwand.
»Was war das?«, schrie Sanchia, die jetzt erst begriff, dass nicht Tsing das Tor geöffnet hatte, sondern eine unheimliche, fremde Macht.
Tsing hatte sich mühsam vom Boden hochgestemmt, er hatte seinen Helm und das Kopftuch verloren und blutete im Gesicht und an der Schulter. Sanchia hielt die Kerze höher und wunderte sich vage, dass sie immer noch brannte. Dann traf sie ein heftiger Luftzug, und im nächsten Augenblick war die Flamme erloschen. Es roch betäubend nach verbranntem Pulver, und aus irgendeiner Ecke wälzte sich Rauch auf sie zu. Die Kerze war zwar ausgegangen, aber es war keineswegs dunkel, denn von weiter oben drang glühendes Licht zu ihnen herab, nicht blau, sondern orangerot wie von einem Feuer.
»Es brennt«, stieß Sanchia hervor. Sie packte Tsing beim Arm, um ihn zu stützen. »Kannst du laufen?«
Er nickte nur und schüttelte ihre Hand ungeduldig ab. Durch Schwaden von immer dichter werdendem Rauch tasteten sie sich vorwärts, und Sanchia versuchte hustend und spuckend, sich zu orientieren. Sie fanden schließlich einen Durchlass, und dahinter tat sich ein Gang vor ihnen auf, von dem Gefängniszellen abgingen, karge, vergitterte Verliese. Die Zellen waren jedoch leer, bis auf eine, in der ein Greis in zerlumpter Kleidung an den Stäben rüttelte. »Habt Erbarmen, Ihr Christenmenschen«, greinte er. Dann fiel sein Blick auf das schlitzäugige Gesicht und den langen Zopf, und er zuckte verstört zusammen.
»Mach ihm auf«, bat Sanchia, doch Tsing hatte sich bereits entfernt. Der Rauch quoll in Stößen näher, und Sanchia war gezwungen, ihrem kleinen Führer zu folgen, wenn sie nicht ersticken wollte. Der alte Mann hinter ihr jammerte, als sie außer Sicht geriet, und sie schluchzte hilflos auf, weil sie ihm nicht helfen konnte. Weiter vorn standen alle Zellentüren offen, jemand musste die Gefangenen bereits befreit haben. Nur in der letzten Zelle war noch jemand, eine zottelhaarige Frau, die zusammengesunken an der Wand hockte. Auch das Gitter dieses Verlieses war geöffnet worden, doch entweder war die Frau bewusstlos oder tot, jedenfalls gab sie kein Lebenszeichen von sich, als Sanchia sie anrief.
Von Lorenzo war weit und breit nichts zu sehen. Sie stolperte vorwärts, bis Tsing endlich wieder in ihrem Blickfeld auftauchte. Sie sah ihn vor sich eine Rampe hochklettern, die in das steinerne Rund der sie umgebenden Wände hineingebaut war. Von weiter oben war wüstes Soldatengeschrei zu hören, und Stiefelgetrappel hallte von den Wänden wider.
Ihr Hals schmerzte bei jedem Atemzug, und ihre Augen brannten so sehr, dass sie kaum noch etwas von ihrer Umgebung erkennen konnte. Der orangefarbene Widerschein war diffusem Tageslicht gewichen, das durch die geborstenen Mauern hereinströmte. Offenbar war das Feuer ausgegangen, entweder vom eindringenden Regen gelöscht oder weil die Flammen keine Nahrung mehr fanden, doch es stank immer noch schlimmer als im Schlund der Hölle. Sie konnte sich plötzlich genau erinnern, wann sie diesen Geruch schon einmal wahrgenommen hatte. Es war an jenem Tag gewesen, als das Kloster geplündert worden war und Pasquale im Hof von San Lorenzo eine Ladung Schwarzpulver entzündet hatte. Und dann hatte sie es wieder gerochen, als er sie aus dem Gefängnis des Palazzo Ducale befreit hatte. Einen beklemmenden Augenblick lang bildete sie sich ein, er wäre hier, doch dann ließ sie diesen absurden Gedanken sofort wieder fallen. Sie kämpfte sich vorwärts, immer weiter nach oben, und bei jedem Schritt ließ es sich leichter atmen. Der Rauch verzog sich zusehends, und als sie gleich darauf ein
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