Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
nachzudenken.
Etwas fehlte noch. Die Hexe hatte es nicht benutzt, aber sie selbst fühlte sich damit einfach hübscher. Sie holte die Schatulle mit den Schminkutensilien aus der Truhe. Mit geübten Fingerstrichen verteilte sie in dezenter Dosierung Zinkweiß, Lippenfarbe und Khol, und als sie das Ergebnis im Spiegel begutachtete, war sie zum ersten Mal an diesem Tag zufrieden mit sich.
Es machte ihr nicht einmal sonderlich viel aus, als der alte Mann nach ihr rief. Seine zittrige Stimme war kaum zu hören, doch er würde nicht ruhen und weiterstöhnen, bis jemand sich seiner erbarmte. Natürlich würde sie zu ihm gehen, das war sie ihm schuldig. Armer, alter Mann!
Bei dem Gedanken, in diesem Gewand und mit dem angemalten Gesicht vor ihm zu erscheinen, erfüllte sie eine diebische Freude. Mit den Händen strich sie sich über die Hüften und vergewisserte sich, dass die Seide glatt auf ihrer Haut lag. Dann horchte sie aufmerksam nach unten, doch es war kein Geräusch zu hören. Rasch zog sie den Riegel zurück und schlüpfte aus dem Zimmer, um zur benachbarten Tür zu eilen. Sie hatten den Alten heraufschaffen lassen, gleich nachdem ihn der Schlag getroffen hatte. Seine unartikulierten Schreie und das ewige Stöhnen hätten sonst das Leben im Piano nobile unerträglich gemacht. Hier oben war er kaum zu hören, es sei denn, sie selbst hielt sich zufällig gerade in der Kammer neben der seinen auf.
Sie öffnete möglichst lautlos die Tür und schlich zu seinem Bett. Rein äußerlich wirkte er kaum verändert, bis auf die Lähmung, die seinen ganzen Körper gefangen hielt und ihn daran hinderte, mehr zu bewegen als ein paar Finger seiner linken Hand. Er konnte weder sprechen noch sonst etwas alleine erledigen. Die Bediensteten mussten ihn waschen, füttern und windeln wie ein kleines Kind.
Doch sein Denkvermögen war nicht im Mindesten beeinträchtigt. Sie erkannte es jedes Mal an dem kalten Entsetzen, das in seine Augen trat, sobald sie unerwartet vor seinem Bett auftauchte, vor allem, wenn sie so gekleidet und zurechtgemacht war wie jetzt.
Kichernd beugte sie sich über ihn und strich ihm über das schüttere Haar.
»Bin ich ein ungezogenes Mädchen? Was denkst du? Gefalle ich dir?«
Ein Speichelfaden rann ihm aus dem Mundwinkel, langsam und Ekel erregend. Doch es störte sie nicht. Mit einem verschwörerischen Lächeln beugte sie sich über ihn, um ihn auf die Lippen zu küssen. »Ich weiß, das sollte ich nicht tun. Die Kirche sagt, es sei Sünde.« Sanft flüsterte sie die Worte an seinem faltigen Hals, eine Hand an seiner Wange. »Doch die Liebe geht nun mal ihre eigenen Wege, und wer könnte dich mehr lieben als ich, Vater?«
Piero war sofort aufgebrochen, als er festgestellt hatte, dass das Boot weg war. Sein neuer Auftraggeber hatte zwar ein wenig befremdet reagiert, zeigte jedoch Verständnis, vor allem, nachdem Piero ihm versichert hatte, dass er in einigen Wochen wiederkommen würde. Bis zur Fertigstellung des Rohbaus würde es ohnehin noch eine Weile dauern, und vorher würde er auch keine Fenster einpassen können. Immerhin hatte Giovanni Caloprini eine Auswahl aus den Glasmustern treffen können, der Zweck des heutigen Besuchs war folglich erfüllt.
Piero fühlte sich elend, als die Gondel endlich in den stinkenden Kanal einbog, der an der Abdeckerei vorbeiführte. Ihm war sterbensübel, und das hatte nichts mit den widerwärtigen Gerüchen zu tun, die von den herumliegenden Fleischabfällen kamen.
Er entlohnte den Gondoliere und legte den restlichen Weg im Laufschritt zurück, die Kiste mit den klirrenden Musterstücken auf der Schulter.
Seine Erleichterung war gewaltig, als er seine Tochter und seinen Gesellen in Sebastianos Laden antraf. Er stellte die Kiste ab, und Sanchia stürzte auf ihn zu. Er hob sie hoch in seine Arme und presste sie so fest an sich, dass sie aufstöhnte.
Über ihren Kopf hinweg schaute er Pasquale an, der seinen Blick niedergeschlagen erwiderte. Sie beeilten sich, zum Sàndolo zurückzukehren und die Heimfahrt anzutreten. Unterwegs wechselten sie kaum ein Wort, jeder hing seinen Gedanken nach. Sanchia, die vorhin schon erschöpft gewirkt hatte, schlief nach kurzer Zeit ein, den Kopf in Pasquales Schoß.
»Caloprinis Frau«, sagte Pasquale nach einer Weile leise. »Ihretwegen sind wir verschwunden. Sie weiß etwas.«
Piero nickte. »Ich habe es mir gedacht.« Er trieb das Boot mit stetigen Ruderschlägen voran, und nichts an der bedächtigen Art seiner Bewegungen
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