Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
unternommen?«
»Noch nicht. Ich warte den richtigen Zeitpunkt ab.«
»Hoffentlich ist der richtige Zeitpunkt nicht dann erst gekommen, wenn du schon tot bist.«
Sanchia wusste, dass Maddalena Recht hatte. Sie konnte es nicht länger aufschieben, sondern musste endlich Caterina aufsuchen und eine Erklärung verlangen, nicht nur, weil sie um ihr eigenes Leben besorgt war, sondern weil sie es Aurelia schuldig war. Das Mädchen hatte ein Recht darauf, dass ihr Mörder zur Rechenschaft gezogen wurde.
Nach ihrem Besuch bei Maddalena ging sie zum Torhüterhäuschen. Girolamo hockte auf einem Schemel beim Fenster und schliff sorgsam mit einem Wetzstein die Schneiden seines Schwertes. Sanchia sah, dass die zweiseitige Klinge so scharf und dünn war wie das feinste Rasiermesser, und sie überlegte beklommen, ob es vielleicht eine gute Idee wäre, bewaffnet in der Ca’ Caloprini zu erscheinen. Wie auch immer, sie würde auf keinen Fall allein dort hingehen.
»Girolamo, ich möchte dich um deine Begleitung bitten. Ich habe vor, heute Nachmittag meine Schwiegermutter aufzusuchen, und mir wäre daran gelegen, wenn du unten vor dem Haus auf mich wartest. Damit … damit sichergestellt ist, dass ich nach dem Besuch unbeschadet wieder hinauskomme.«
Er nickte nur und stellte keine Fragen. Nicht nur, weil er nicht reden konnte, sondern weil er ganz offensichtlich davon ausging, dass sie ihm schon alles sagen würde, von dem sie meinte, es ginge ihn etwas an. Sie war dankbar für seine Diskretion und seine bedingungslose Hilfsbereitschaft, die er ihr nach so vielen Jahren immer noch und mit nie nachlassender Selbstverständlichkeit zuteil werden ließ.
Halb gerührt, halb belustigt sah sie, dass er die feinen, bestickten Laken, die sie ihm bei einem ihrer letzten Besuche mitgebracht hatte, als Wandbehang verwendete statt für sein Bett. Er folgte ihren fragenden Blicken auf die unübliche Verzierung und hob mit einem schiefen Lächeln die Schultern. Als Wandteppich viel schöner , teilten seine Gesten ihr mit. Zu schade fürs Bett.
Wie immer erkundigte sie sich nach seiner Schwester und deren Familie – es ging ihnen gut – und dann nach seinem Rücken, und sie war froh, dass auch hier nach wie vor alles in Ordnung war. Daran würde sich auch nichts ändern, solange Maddalena die Krankenversorgung in San Lorenzo unter sich hatte.
Sie hatte Sanchia gebeten, noch bei Annunziata vorbeizuschauen. Sanchia hatte es ohnehin vor, schon weil sie sich für Annunziatas Einsatz wegen Lucietta bedanken wollte. Dennoch fürchtete sie sich vor dem bevorstehenden Besuch.
Eine der Converse begleitete sie zu den Privatgemächern Annunziatas. Die Äbtissin saß hinter ihrem Schreibpult und schrieb an langen Zahlenkolonnen. Als Sanchia den Raum betrat, lächelte sie müde und schob den Papierwust zur Seite.
»Wenn du die Tür zu meinen Räumen öffnest, geht sofort die Sonne auf.«
Sanchia erwiderte das Lächeln. »Das scheint Euch nur so, weil mein Haar so hell ist.« Sie gab sich Mühe, ihre Besorgnis zu verbergen, während sie näher trat. Maddalena hatte nicht übertrieben, Annunziata sah sehr schlecht aus. Es war nicht zu verbergen, dass sie schwerkrank war, und es würde auch nicht mehr lange dauern, bis ihr Leiden sie daran hindern würde, wie gewohnt ihren Alltag zu gestalten.
Annunziata deutete auf die Papiere. »Die vermaledeite Buchhaltung.« Sie legte die Schreibfeder weg und rieb sich die Schläfen. »Ich habe genug kluge Köpfe dafür, doch immer wieder finde ich Fehler, wenn ich es kontrolliere.«
»Vielleicht kontrolliert Ihr es einfach nicht mehr«, sagte Sanchia sanft.
Annunziata nickte. »Das wäre eine Möglichkeit, aber die falsche. Weißt du, mit der Verantwortung ist das so seine Sache. Man übernimmt sie irgendwann, und dann wird man sie nie wieder los, sosehr man sie auch zuweilen zum Teufel wünscht.«
»Manchmal wird die Verantwortung zu einer so schweren Last, dass einer allein sie nicht mehr tragen kann.«
»Es gibt tatsächlich Tage, da denke ich ebenso.« Annunziatas nachdenklicher Blick glitt über die schlichten Heiligengemälde an den Wänden und von dort zu den Fensterbögen ihres Arbeitszimmers. Sonnenlicht strömte herein und überzog die einfache Einrichtung mit staubigem Glanz. Annunziata blinzelte, dann strich sie sich über die Augen. »Ich stelle mir vor, wie viele andere Dinge ich noch tun sollte. Lesen, hinaus in die Natur gehen, mit meinen jungen Schützlingen reden, so wie Albiera
Weitere Kostenlose Bücher