Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
früher. Sie hatte immer genug Zeit, irgendwie schaffte sie es, dass ihre Tage doppelt so viele Stunden hatten wie meine.«
Sanchia lächelte. »Falsch. Sie war einfach nur ein Genie, was die perfekte Organisation betraf.«
»Das stimmt. Und nicht nur darin.« Annunziata lachte kurz. »Während ich mein Leben zu einer einzigen Feier machte, hat sie die Welt gerettet.«
»Es ist nicht so, dass Ihr jetzt alles wettmachen müsst, was Ihr in dieser Richtung versäumt habt. Nehmt Euch die Zeit für Beschäftigungen, die Euch Freude machen.« Sanchia zögerte. »Ich weiß, dass Ihr Euch noch mit Messèr Sagredo trefft.«
»Maddalena ist eine Plaudertasche.«
Darauf ging Sanchia nicht ein. »Er tut Euch gut. In einem anderen Leben wäre er Euer Mann geworden, und ich weiß, dass er Euch über alles liebt. Fahrt gemeinsam weg. Warum nicht auf die Terraferma? Wir haben dort ein kleines Landhaus, es steht fast das ganze Jahr über leer. Ihr könnt es benutzen. Verbringt einige Tage mit ihm. Redet, sitzt in der Sonne. Lest. Schlaft. Esst gute Mahlzeiten, trinkt Wein. Vergesst San Lorenzo für eine Weile.«
»Wie kann ich es vergessen?«, fragte Annunziata. »Es ist mein Leben.« Sie hielt inne. »Bist du ihm noch böse, mein Kind?«
Sanchia schüttelte sofort den Kopf, teils aus Überzeugung, teils, weil sie Annunziata nicht beunruhigen wollte.
»Er hatte nur ehrenwerte Motive, Sanchia. Er hat es gut mit dir gemeint. Und mit anderen. Seine Arbeit – nicht die als Obsthändler – verschafft ihm viele Einblicke, und du musst mir einfach glauben, dass er das niemals verwenden würde, um dir oder anderen absichtlich wehzutun.«
Sanchia nickte zurückhaltend. Inzwischen wusste sie mehr über ihn, Lorenzo hatte sie damals nach ihrem Wiedersehen notgedrungen in gewisse Tatsachen eingeweiht. Wegen dieses mit allen Wassern gewaschenen Spions der Serenissima hatte sie drei Jahre mit ihrem Mann verloren, und der Groll darüber hatte lange Zeit sehr tief gesessen. Doch im Rückblick konnte niemand wissen, wie diese drei Jahre verlaufen wären, wenn Sagredo nicht für eine Wende des Schicksals gesorgt hätte. In gewisser Weise hatte er nicht Unrecht gehabt. Oftmals halfen nur Illusionen den Menschen, zu überleben. Sie hatte immer noch keine Ahnung, woran sie wirklich mit ihm war, mit diesem merkwürdigen Mann, bei dem man niemals wusste, ob er es ernst meinte oder seine Witzchen riss. Nur eines wusste sie ohne jeden Zweifel: Er liebte diese Frau, die hier vor ihr saß und bald sterben würde, und er war der einzige Mensch, der es ihr vielleicht ein wenig leichter machen konnte.
»Ich möchte Euch jetzt untersuchen«, sagte sie behutsam.
»Muss das sein? Ich kann dir versichern, es ist nicht besser geworden.«
»Habt Ihr schon Schmerzen?«
Annunziata nickte zögernd.
»Ich kann Euch etwas dalassen, aber Ihr müsst es mit Bedacht anwenden, und um Euch sagen zu können, in welcher Dosis Ihr es einnehmen könnt, muss ich nachsehen, wie es um Euch steht.«
Annunziata stand stumm auf, um sich auszukleiden. Dabei glitt ihr der Schleier vom Kopf. Ihr Haar fiel ihr in ausgefransten, schlohweißen Strähnen über die Schultern.
Sanchia versuchte, sich ihre Bestürzung über den Anblick nicht anmerken zu lassen. Sie räusperte sich und suchte nach Worten, doch außer einer Nebensächlichkeit fiel ihr nichts ein. »Ich möchte Euch noch herzlich dafür danken, was Ihr für Lucietta getan habt. Und damit auch gleichzeitig für den jungen Filippo.«
»Der alte Kampfhahn Tullio hat sich die Zähne ausgebissen, es war nicht weiter schwer, ihn zu überreden.« Annunziata kicherte zufrieden. »Und da der Patriarch tut, was er sagt, ging der Rest von allein.«
»Jemand anderer hätte ihn nicht so leicht überzeugt.«
»Nun, jemand anderer hätte ihn vermutlich auch nicht an seine Versäumnisse im Fall Toderini erinnern können«, meinte Annunziata trocken. »Diesen Fehler will er ganz sicher nicht wiederholen.« Sie legte ihren Habit sorgfältig über die Lehne des Stuhls und zupfte an ihrem leinenen Unterkleid, bevor sie auch dieses abstreifte. Ihr Körper, bis vor wenigen Monaten trotz ihrer Jahre noch üppig und weiblich gerundet, war verfallen und schmal, die Haut welk und gelblich.
Sanchia holte Luft und erwiderte Annunziatas Blick.
»Schrecklich, oder?«, fragte die Äbtissin ironisch.
Sanchia hätte um nichts in der Welt zugegeben, wie schrecklich sie es fand. Hastig nahm sie Zuflucht zu einer Ablenkung. »Ihr wisst, dass
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