Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
sah ihn drüben stehen, keine zwanzig Schritt entfernt, hochmütig und umringt von seinen Janitscharen, die ihn mit gezückten Waffen zuverlässig gegen Übergriffe seiner Feinde abschirmten.
»Bayezid, Herrscher der Osmanen! Schau her! Ist dein Wort so wenig wert? Du nennst dich der Heilige , aber handelst du auch so?« Er brüllte aus voller Kehle, türkisch, arabisch und schließlich noch einmal auf Venezianisch, bevor er zum Wurf ausholte, kurz und schnell und ohne nachzudenken. Der Dolch fuhr zischend zwischen den vor ihm kämpfenden Männern hindurch, um Haaresbreite an Tsings Ohr vorbei. Er verfehlte einen der schnurrbärtigen Janitscharen nur um einen Hauch, weil dieser sich im Moment des Abwurfs in die falsche Richtung bewegt hatte. Doch er fand sein Ziel exakt an der Stelle, die Lorenzo im Auge gehabt hatte.
Surrend und zitternd blieb er drei Fingerbreit neben dem Turban des Sultans im Hauptmast der türkischen Galeere stecken, das Pergament mit dem Siegel des Adlî in das Eichenholz nagelnd wie eine öffentliche Anklage.
Ein einziger wütender Aufschrei kam aus Dutzenden von Kehlen, während um den Sultan herum ein Tumult losbrach.
»Komm doch und hol mich«, murmelte Lorenzo. Dann wurde es um ihn herum dunkel.
Sanchia blickte über die gesenkten Köpfe hinweg und lauschte den Stimmen, die stockend den eben diktierten und niedergeschriebenen Text von den Schiefertafeln ablasen. Heute waren acht Mädchen gekommen, zwei mehr als beim letzten Mal, doch es waren nicht immer dieselben, die zum Unterricht erschienen. Manche kamen nach der ersten Stunde nie wieder, andere setzten zwischendurch aus und mussten dann das Versäumte nachholen. Immer wieder kamen auch neue Mädchen dazu, und da Sanchia nicht wollte, dass sie weggeschickt wurden, hatte sie schon vor einer Weile eine zweite Klasse einrichten müssen. Zum Glück hatten sich einige Nonnen bereit gefunden, die dadurch anfallenden zusätzlichen Stunden zu übernehmen. Eine von ihnen verstand sich auch auf Mathematik und brachte den Schülerinnen die Grundbegriffe des Rechnens bei, und Maddalena gab einmal die Woche eine Stunde Gesundheitskunde, besonders rund um alle Fragen der Schwangerschaft. Sie referierte über richtige Ernährung, Säuglingspflege und den Einsatz heilender Kräuter.
»Warum müssen wir immer lateinische Texte lesen?«, fragte eines der Mädchen Sanchia.
»Weil die besten Bücher in Latein geschrieben sind.« Noch während sie das sagte, lauschte Sanchia ihren Erinnerungen nach, und plötzlich standen Tag, Stunde und Ort so deutlich wieder vor ihrem inneren Auge, als wäre es nicht schon fast siebzehn Jahre her, dass Albiera dasselbe zu ihr gesagt hatte.
Nach dem Unterricht besuchte sie Maddalena in ihrer Zelle und bewunderte pflichtschuldig deren neue Sammlung menschlicher Organe, die in großen Gläsern voller Spiritus schwammen. Die junge Nonne bewahrte sie unter ihrem Bett auf, wohlwissend, dass niemand in ihrem Umfeld Verständnis für dieses grausige Anschauungsmaterial aufbringen würde. Manchmal schlich sie nachts heimlich in die Kammer, wo Moses die Tiere schlachtete, um bei Kerzenlicht die Organe zu sezieren und so ihr brennendes Bedürfnis zu stillen, mehr über die Funktionsweise der geheimnisvollen Wunder zu erfahren, die den Körper des Menschen ausmachten. Sie hatte auch weitere Sektionen im Dominikanerspital durchgeführt, bewacht von Filippo, der ihretwegen tausend Tode starb und nur Luciettas wegen die Gefahr einer Entdeckung auf sich nahm.
»Ich wünschte, es gäbe andere Möglichkeiten als diese Heimlichtuerei«, sagte Maddalena, versunken den Inhalt eines der Gläser betrachtend – eine krankhaft vergrößerte Leber. »Aber darauf können wir noch mindestens hundert Jahre warten, und so lange lebe ich leider nicht.«
»Du musst dich vorsehen«, sagte Sanchia besorgt. »Solche Dinge haben die Eigenheit, ans Licht zu kommen.«
»Bald ist es sowieso damit vorbei«, meinte Maddalena seufzend. »Ich bekomme keine Organe mehr. Meine Quelle wird in Kürze versiegen. Filippo hat die offizielle Erlaubnis zum Studieren, und Lucietta hat ihren Dispens. Sie wollen nächsten Monat bereits heiraten. Also keine unsterbliche Liebe aus der Ferne wie bei Abaelard und Heloise, sondern eine ganz profane Ehe mit langweiligem Alltag.«
Sanchia lachte erfreut. »Endlich eine gute Nachricht!«
»Das ist Ansichtssache«, meinte Maddalena trocken. Sie zögerte. »Hast du schon etwas gegen die Giftmischerin
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