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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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zurück.
    Sanchia zog die Hand aus Annunziatas Nacken, mit einer sanften Bewegung, die fast ein Streicheln war.
    »Wie lange noch?«, fragte Annunziata leise.
    »Das weiß Gott allein.«
    »Wie lange noch?«
    Sanchia seufzte. »Ein halbes Jahr, vielleicht weniger.«
    Annunziata nickte mit unergründlicher Miene. »Das halte ich für realistisch.« Sie legte ihre Gewänder wieder an und ging mit steifen Schritten zu dem kleinen Hausaltar vor der Loggia, wo sie die hölzerne Marienfigur betrachtete, die dort zwischen Gartenblumen stand. »Der Gedanke, für ein paar Tage wegzufahren und richtig auszuruhen, ist vielleicht gar nicht so schlecht.«
    »Er ist ganz sicher nicht schlecht. Es wäre das Beste, was Ihr tun könnt.«
    »Ich werde mich näher damit befassen, sobald ich die Frage meiner Nachfolge geklärt habe.«
    »Lasst Euch nicht zu lange Zeit. Die Schmerzen …« Sanchia brachte den Satz nicht zu Ende, doch Annunziata hatte kein Problem, auch so zu verstehen, was sie meinte.
    »Ich weiß. Sie machen schwach und willenlos und verderben einem rasch auch das letzte bisschen Lebensfreude. Ich konnte noch nie gut Schmerzen aushalten. Hast du die Medizin dabei?«
    »Nicht genug für längere Zeit. Aber ich bringe Euch später noch mehr davon.« Sanchia nahm eine kleine, in gewachstes Leinen eingeschlagene Phiole aus ihrem Beutel. »Das ist ein Fläschchen Mohnsaft. Wenn Ihr es fingerhutweise einnehmt, führt es zu einem ruhigen Schlaf.«
    »Und wenn ich mehr davon nehme?«
    »Wird der Schlaf sehr tief«, sagte Sanchia ruhig.
    »Bring mir nur genug davon. Für den Fall, dass die Schmerzen unerträglich werden.«
    Annunziata hatte ihren Schleier noch nicht wieder angelegt. Sie stand vor dem geschnitzten Marienbild, das weiße Haar wie zarte Spinnenfäden auf dem Tuch des Nonnengewandes. Die Sonne überzog ihre gebeugte Silhouette mit einem matten Silberschein, und Sanchia versuchte, sich daran zu erinnern, wie Annunziata ausgesehen hatte, damals, als der Plünderer sie hatte töten wollen. Wie ihre Augen gefunkelt hatten und wie voll ihr Haar gewesen war, wie aufrecht und stolz ihre Gestalt.
    Doch sie sah nur eine kranke, todgeweihte Frau.
    Sanchia ballte hinter ihrem Rücken die Hände zu Fäusten und presste sie hart gegeneinander. Warum?, dachte sie. Warum holt er immer die Besten zu früh?
    »Geh ruhig«, sagte Annunziata, ohne sich zu Sanchia umzudrehen. »Geh mit Gott.«
    Sie fragte sich, ob sie es hätte besser machen können. Ob andere Worte angebrachter gewesen wären. Vielleicht eine Lüge, oder eine Beschönigung, was die noch verbleibende Zeit betraf. Doch Annunziata hatte schon immer ein gutes Gespür für Wahrheiten gehabt. Sie hätte sich nicht an der Nase herumführen lassen, egal wie schlecht es ihr ging.
    Sanchia fühlte sich verschwitzt und ausgelaugt, als sie das Amtsgebäude der Äbtissin verließ. Girolamo wartete bereits auf sie, doch sie winkte ab, als er sich bereitmachte, ihr auf das Boot zu folgen, um sie zu ihrer Schwiegermutter zu begleiten.
    »Ich muss mich zuerst waschen und umziehen«, sagte sie entschuldigend. »Ist es dir recht, wenn ich in zwei Stunden wiederkomme?«
    Er hatte nichts dagegen, Zeit war für ihn nebensächlich.
    Sanchia selbst hatte das Gefühl, die Atempause dringend zu benötigen, um die Unterredung mit Annunziata zu verarbeiten. Sie hätte nicht erwartet, dass es ihr so zusetzen würde, doch wenn sie genauer darüber nachdachte, erkannte sie rasch den Grund dafür: Annunziata hatte nach Albieras Tod deren Stelle eingenommen. Sie hatte ihr nicht die Mutter ersetzen können, ebenso wenig wie ihre Schwester vor ihr, dafür gab es zu viele elternlose Mädchen in San Lorenzo. Aber es war dem nahegekommen. Das Band, das zwischen ihnen seit Albieras Tod entstanden war, war stark, stärker als alle anderen Beziehungen, die Sanchia über die Jahre hinweg zu den älteren Nonnen hatte aufbauen können.
    Während ihr Gondoliere das Boot über den Rio di Lorenzo und dann durch das Gewirr der Kanäle weiter nach Südosten in Richtung San Marco lenkte, starrte Sanchia schweigend ins Wasser. Sonne flimmerte auf der schwärzlichen Oberfläche, bewegt vom unaufhörlichen Gezeitenstrom der Lagune, die dieses steinerne Schiff Venedig umspülte und zugleich zerteilte wie einen zerklüfteten alten Felsen im Meer.
    »Seht, Madonna«, sagte der Gondoliere, als sie in den Kanal eingebogen waren, der an ihrem Haus vorbeiführte. Er deutete auf den kleinen Palazzo. Die Köchin stand

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