Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
aufgelöst am Wassertor und weinte in ihre Schürze. Als sie die Gondel näherkommen sah, warf sie aufheulend die Arme hoch. »Endlich seid Ihr da! Ich habe schon die ganze Zeit auf Euch gewartet!«
Einen atemlosen Moment lang glaubte Sanchia, es gäbe einen weiteren Toten in der Dienerschaft. Sie hatte jedem Einzelnen von ihnen ausdrücklich verboten, Nahrungsmittel und Getränke zu sich zu nehmen, deren Herkunft nicht über jeden Zweifel erhaben waren.
Unter zahlreichen stockenden Schluchzern stieß die Köchin hervor, dass sie sich keinen anderen Rat gewusst habe, als sofort die Eltern zu benachrichtigen. »Sein Vater! Seine Mutter! Es sind die Menschen, die ihm am nächsten stehen! Ich habe einen Boten geschickt. Sie mussten es doch gleich erfahren!«
»Wovon redest du?«, flüsterte Sanchia mit tauben Lippen.
»Gott sei Dank waren sie da! Der Vater ist sofort gekommen, mit dem schwarzen Sklaven, und dann haben sie ihn zusammen aufs Boot gebracht und mitgenommen.«
Sanchia fror trotz der sommerlichen Wärme. Eisige Kälte zog über ihren Rücken, bis sich sämtliche Härchen an ihrem Körper aufrichteten. »Wen? Wen haben sie mitgenommen?«
»Den Herrn. Euren Gatten. In sein Elternhaus.«
Sanchia atmete gegen die Dunkelheit an, die von allen Seiten auf sie zufloss. Sie umklammerte den Rand des Bootes, in der sicheren Überzeugung, dass sie sonst herausgefallen wäre.
»Ist er …« Sie stockte. Nein, dachte sie wild. Ich wüsste es, wenn es so wäre! Es war schon früher so, in dem Sturm! Ich hätte es gespürt, wenn es anders gewesen wäre! Er war nicht tot, damals nicht und jetzt nicht!
Die Köchin knetete ihre Schürze und holte zitternd Luft. »Soldaten haben ihn hergebracht, damit er zu Hause sterben kann.«
»Sterben?«, brachte Sanchia mühsam hervor.
Die Köchin nickte schluchzend. »Er liegt auf dem Totenbett. Die Türken haben ihm ein Bein abgeschlagen.«
Während der Fahrt zitterte sie so stark, dass sie am liebsten laut aufgeschrien hätte vor Verzweiflung. Wie sollte sie ihm helfen, wenn sie ihre Hände nicht ruhig halten konnte und wenn sie die ganze Zeit über fürchten musste, sich zu übergeben?
Die Anspannung hatte ihre Eingeweide in Aufruhr versetzt, so heftig, dass sich ziehende Schmerzen bis in ihren Unterleib auszubreiten begannen.
Betäubt dachte sie, dass es für das Kind sicher besser wäre, wenn sie sich jetzt hinlegte und einen Schluck von dem Schlaftrunk nahm, den sie ihren Kranken zur Beruhigung gab. Oder ein großes Glas voll Grappa, bevor es schlimmer werden konnte. Entsetzliche Bilder stürmten auf sie ein, eine blutige Mischung, zusammengesetzt aus Erinnerungen an Eleonoras Frühgeburt und Pasquales Beinstumpf, der in ihrer Vorstellung jedoch nicht glatt verheilt, sondern offen und brandig war.
Die Türken haben ihm ein Bein abgeschlagen …
Wenn er es aus der Ägäis bis zurück nach Venedig geschafft hatte, war er nicht am Schock der Verletzung gestorben. Er konnte nicht mehr verbluten. Wenn sie ihn gleich hergebracht hatten, ohne unterwegs anzulegen und Rast zu machen, konnte der Stumpf noch nicht faulig geworden sein. Zumindest nicht so sehr. Eine Entzündung mit Fieber, das ja. Es konnte schlimm sein, schrecklich schlimm. Aber er könnte es schaffen. Wenn er stark war und leben wollte. Und wenn sie ihm helfen konnte. Vielleicht.
Dieses Vielleicht gewann in ihren Vorstellungen an Dimensionen, es wuchs und wuchs und nahm immer mehr Gestalt an, bis es genug war, um sich daran festzuklammern.
Der Gondoliere legte vor der Ca’ Caloprini an und half ihr beim Aussteigen.
»Rudere gleich weiter zum Palazzo Toderini oberhalb vom Rialto«, befahl sie ihm. »Und zwar so schnell du kannst. Hol Messèr Sarpi her, sofort. Sag ihm, es geht um Leben und Tod.«
Er tippte grüßend an sein Barett und stieß eilig das Boot von der Fondamenta ab. Mit schwachem Gluckern löste sich die Gondel von den Stufen und glitt rasch davon.
Sanchia stürmte durch den Landeingang ins Haus, und ohne zu zögern, lief sie zur Treppe, denn sie ging davon aus, dass sie ihn in seine frühere Kammer gebracht hatten.
Damit lag sie richtig, wie sie beim Durchqueren des Portego sofort erkannte. Das gesamte Piano nobile wimmelte nur so von Menschen, die sich im Saal und bei der Schlafkammer drängten.
Im Türrahmen stand Rufio, das dunkle Gesicht grüblerisch verzogen. Dicht neben ihm trat Giovanni nervös von einem Fuß auf den anderen, einen Ausdruck reiner Angst im Gesicht. Caterina war
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